Relative Realitäten
Im Jahr 2008 fährt Volkmar Klien, mit einem Presseausweis ausgestattet, per Autostopp durch Österreich. Er fragt Menschen, die ihm begegnen, ob sie ihm den Ort nennen können, der für sie am besten klingt. Immer wieder nennen diese Orte, an denen sie sich gerade nicht befinden, Orte, die ganz anders klingen als der aktuelle Ort.
In Anlehnung an den Zyklus „symphonische Dichtungen“ von Friedrich Smetana produziert Klien ein „radiophonisches Roadmovie“ (Má Vlast / Mein Vaterland / My Fatherland, ORF Kunstradio, 2008), welches den schönen Klang allerdings vergeblich suchen lässt. Die Suche selbst erzählt die eigentliche symphonische Dichtung.
Diese Sendung ist die erste in einer langen Reihe von Kliens Werken, in denen beteiligte Personen – auch das Publikum – aktiv mit einbezogen werden. Klien untersucht konsequent das Verhältnis von Autor und Betrachtenden. Kein Publikum ist zur passiven Teilnahme gezwungen. Manchmal ergeben sich geradezu intime Situationen (Rezeptionshaltungen, 2012), manchmal kann diese Mitgestaltung durchaus in Zerstörung enden, so Im Sattel der Zeit (2020). Alle befinden sich hier in einem Labyrinth aus Papier – und das Publikum ist eingeladen, dieses zu durchschneiden, um mit den Akteurinnen und Akteuren in Kontakt zu treten.
In einigen aktuellen Arbeiten fungieren die Smartphones der Anwesenden als deren Partitur. Sie tönen mit, oder geben Anweisungen. The Stellas (Simon Lee, Eve Sussman, Volkmar Klien, ab 2025) ist eine Inszenierung, in der Personen aus dem Publikum in zwei Rollen schlüpfen und wiederholt Szenen einer alten Fernsehserie nachspielen. Die Darstellerinnen und Darsteller bekommen ihre Anweisungen in ihr Smartphone eingesprochen. Eine auf den ersten Blick banale Szene verwandelt sich in ein undurchschaubares Geflecht aus Szenen, in dem sich Rollen, Identitäten und Geschlechter nach einem strengen Regelwerk ständig überlagern – unweigerlich fühlt man sich an David Lynch erinnert.
Die Spielregeln sind meist nach musikalischen Gesichtspunkten konstruiert. So folgt die Regel im oben genannten Beispiel der Konstruktion einer Fuge. Musikalische Regeln, auch historische, bestimmen die Struktur und die Zeit. Die Kulturgeschichte – insbesondere Renaissance und Barock – bildet das Fundament. Klien verweist dabei bewusst auf das kulturelle Erbe Niederösterreichs, stets begleitet von einem feinen, ironischen Humor.
Tondenkmäler der Tiefbaukunst in Österreich ist eine mehrkanalige Audio- und Videoinstallation. Gezeigt werden Aufnahmen aus einem Auto mit Kameras und Mikrophonen, die in vier Richtungen sowie nach oben gerichtet sind. Auf dem Auto ist auch ein Lautsprecher montiert, der lautes Rauschen wiedergibt. Die durchfahrenen Bauten und Tunnels werfen diesen Schall zurück, und auf diese Weise wird die Tiefbaukunst hörbar. Bezeichnenderweise wurde diese Installation erstmals im kleinen Barockkeller des Stiftes Melk präsentiert.
Die Umwelt ist für Klien das Problem des Verhältnisses von Hören und Sehen. Relative Realitäten (ab 2007, mit Thomas Grill) nennt Volkmar Klien seine erste groß angelegte Installation, die erstmals in der Minoritenkirche Krems gezeigt wurde und in ihrer Stringenz an Nam June Paik erinnert. Ein Monitor hängt an einem langen Seil und schwingt – während das Bild im Monitor in die entgegengesetzte Richtung pendelt. Ein faszinierendes Spiel mit der Wahrnehmung von Zeit und Bewegung, das durch eine künstliche klangliche Interpretation des Pendels erweitert wird. Das Spiel – obwohl immer wieder dasselbe – präsentiert sich immer wieder neu, je nach Standpunkt, je nach Blickrichtung und akustischer Orientierung. Das Pendel markiert den Bezugspunkt, die Orientierung auf der sich drehenden Kugel unseres Heimatplaneten.
Norbert Math