Neugieriger Grenzgänger
Seine Weinhaus-Serie ist legendär und hat ihm den Rufeines Flaneurs eingetragen, eines ,,Agenten des Gewöhnlichen“, wie Edith Almhofer einmal formulierte. Sie belegte – und belegt noch heute – ein ungewöhnliches Talent, mit der Kamera spontan zu reagieren, aus dem Moment heraus Stimmungen aufzuspüren und festzuhalten; seine Kleiderstudien hingegen, diese ,,Dokumente der Abwesenheit des Körpers“ (Peter Weiermair) mit ihrer mysteriösen Aura, erzählen von tastenden Experimenten mit der Qualität von Oberflächen und quasi haptischen Strukturen: Das Werk des Fotografen Leo Kandl lässt sich nicht einfach in eine Kategorie einordnen. In diesen dem technischen Medium zugebilligten Welten hat sich Leo Kandl als eine Art Grenzgänger etabliert. Nicht erst im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, das solche Praxis weiter verbreitet hat, sondern schon seit er in den Siebzigerjahren, nach seinem Studium an der Akademie der Bildenden Kunst in Wien, die ersten Versuche mit der Kamera anstellte – zu einem Zeitpunkt also, als Fotografie im Kunstkontext in Österreich noch praktisch unbekannt war. Immer wieder wechselte er vom Feld des ,,Reporters“ in das des inszenierenden, genau planenden Bildproduzenten, sozusagen vom ,,Schnappschuss“ zum „Konzept“ und wieder zurück, diesem Gegensatzpaar, das fast allen seiner Zeitgenossen als unvereinbar erschienen ist. Doch eine genauere Analyse der einzelnen Werkgruppen von Leo Kandl und die ihrer Abfolge immanenten Dynamik entlarvt diese Widersprüchlichkeit, diesen ,,Wechsel“ in den künstlerischen Vorgangsweisen als konsequentes und vielschichtiges Umkreisen mehrerer Interessen, die als bestimmende Themen immer wieder auftauchen. Evident wird dies, wenn man seine gegenwärtige Arbeit mit früheren Werken vergleicht. Seit etwa
vier Jahren arbeitet Leo Kandl mit „Modellen“, das heißt, er sucht mit Hilfe von Annoncen Menschen, die bereit sind, sich von ihm fotografieren zu lassen.
Besonderen Wert legt er dabei-bereits im Wortlaut der Anzeige, vor allem aber im ersten Gesprächauf die Kleidung für den anschließenden ,,Fototermin“, die ebenso wie die Inszenierung der Portraits von den Modellen bestimmt werden soll. Die so entstehenden Bilder lassen sich vielleicht als eine Art Reportage einer ,,Amateurmodenschau“ mit unterschiedlich begabten VorführerInnen definieren – aber doch nicht ganz …Immer schon war die Kamera für Kandl Mittel, seine Beobachtungen zu artikulieren: Was ihmverbal als unzulässige Zuspitzung und definitive Festlegung doch stets zu komplexer Phänomene erschien, vermochte er als fotografisches Bild niederzulegenwobei sich allerdings die spätere Auswahl aus den Massen der entstehenden Negative wiederum als schwieriges Entscheidungsfeld erweist. Als Flaneur der dritten odervierten Generation erlebte Leo Kandl seine besondere Herausforderung in den Siebzigerjahren in den Wiener „Weinhäusern“: Nicht wie bei den surrealistischen ,,Ahnen“ – das Irritierende, das ,,Wunderbare“, das durch Zufall Auffällige zog seinen Blick auf sich. Er begab sich auf die Suche nach der „Normalität“ oder jedenfalls nach dem Alltäglichen: Menschen jeden Alters sind an diesen Orten bar jeden Glamours versammelt, allein, in Gruppen, festlich, schlampig, originell oder schlicht gekleidet, lachend oder versonnen, durch das Auge der Kamera aufmerksam geworden oder sich des fremden Blicks völlig unbewusst. Seine ,,Straßenbilder“ (1983-85) setzten diese – mehr oder wenigerspontane Begegnung mit Menschen fort. Auch hier scheint es auf den ersten Blick erstaunlich, wie oft Kandls Beobachtung ihrerseits wiederum bemerkt wurde, wie sich ein ebenfalls beobachtender Blick ,,zurück“aufden Fotografen richtet: Der Akt des Fotografierens wurde von der einsamen Tat des Voyeurs zu einer Geste der-ungeplanten, von der einen Seite gesehen auch ungewollten – visuellen Begegnung. Hier, in den Straßen, fotografiert Kandl heute auch meist seine „Modelle“, kraft seines Auswahlaktes trotz aller Geplantheit des Zusammentreffens immer noch ihm Fremde, deren Selbstdarstellung ganz sichtlich auch eine Reaktion aufdie Person des Fotografen und die von ihm hergestellte Situation des ,,Fotografiert-Werdens“ ist. Es stellt sich eine Art ,,Komplizenschaft“ ein-jedoch mit merkwürdig verteilten Rollen, denn wie sehr es auch eine vorgestellte, ja vielleicht voraus geplante „Rolle“ des Modells geben mag, die ihr oder ihm mangelnde Professionalität verleiht dann wiederum dem Mann hinter der Kamera die Macht der Auswahl und Zusammenschau. Dem Beobachten von Menschen gleichwertig zur Seite stand bei Kandl- wie sich rückblickend
erweist: von den Beginn derArbeit an-das weit über das Übliche hinausgehende Interesse fürMaterialien, ihre Textur und ihre Geschichte. Auch hier können wir bis zu den ,,Weinhäusern“ zurückblicken: Von vielen Jahren gezeichnet, weder frisch noch makellos, präsentieren sich die Räume, in denen sich dieser spezielle Alltag mit seinen Minidramen von Liebe, Aggression und Langeweile abspielt: Vom Gewölbe blättert Farbe, der jämmerliche Teppich zerfasert an allen Seiten, die Tapete löst sich in Blasen von der Wand, die Holzverkleidung hat jede Menge Schrammen abbekommen. Doch sind es nicht diese Blessuren, aufdie Leo Kandl seine und unsere Aufmerksamkeit richtet. Er ist fasziniert vom Reichtum der Muster und Strukturen des Materials, das sich hier zusammengefunden hat.Des Fotografen ganz besondere Begabung, mit der Oberfläche von Materialien zu spielen, sie gegeneinander auszuspielen, sie voneinander abzuheben, hat sich dann in den Zyklen „Aus dem Fundus“ (1990/91), „Kleidungsstücke“ (1991-95), und „Kollektion“ nicht nur neuerlich unter Beweis gestellt, sondern ganz eigene Qualitäten erlangt. Vom Beobachten vorgefundener Situationen ( etwa in Museen undArchiven) schreitet Kandl auch hier zur eigenen Auswahl: Am Flohmarkt Aufgespürtes wird spontan zum Objekt, aber weiter noch geht er bei der Suche nach (ab)getragener Kleidung via Zeitungsannoncen, die er in der Stille des Ateliers arrangiert und fotografiert, gruppiert und vereinzelt, ihr immer näher rückt, bis jede Falte und jede Faser ein Eigenleben gewinnen, das von der Abwesenheit ihres einstigen Besitzers geheimnisvolle Botschaften zu senden scheint. Vom Gewand als Überrest menschlicher Existenz über die jedenfalls durch Kandl an den Tag gebrachte geradezu abstrakte Qualität seiner materiellen Strukturen ist der Fotograf heute ganz bewusst bei der Interaktion zwischen Personen und der von ihnen gewählten und präsentierten Kleidung angelangt. Hier gilt es, den allgegenwärtigen Spuren von Werbung und Modediktat aufdie Schliche zu kommen, den Wunsch nach Anpassung oder dem, was als „Originalität“ empfunden wird, im Bild entgegen zu kommen – oder aber auch, alle diese Versuche zu unterlaufen. Als dritte Konstante in Kandls Werk möchte ich die bemerkenswerte Kombination von unermüdlicher Neugier und Offenheit der Apperzeption mit dem Zwang zu einer streng konzeptionellen
Vorgangsweise nennen. Schon früh, in den beginnenden Siebzigerjahren, hatte er Fremde angesprochen, mit ihnen Kontakt gesucht und sie fotografiert, aber doch sehr formalisiert, vom Alltag abgehoben. Mit der ,,Weinhausserie“ scheint das Beobachten, das Zusammenschauen, die eigentümliche Sprache des Vorgefundenen von Kandl Besitz ergriffen zu haben, um- zumindest zeitweise – das Planen, das Inszenieren, das sonst so charakteristisch ist für ihn, in den Hintergrund zu drängen. Und doch: Er erledigte seine „Runden“regelmäßig zweimal wöchentlich, nach genauem Plan, immer dieselben Lokale. Die Anzeigen in den Zeitungen als Mittel innerhalb seines künstlerischen Entscheidungsprozesses hat Kandl auf der Suche nach getragener Kleidung erstmals eingesetzt. Hier scheint sich ein Prozess abzuzeichnen, dessen Richtung sich zwarheute schon absehen lässt, dessen Konsequenzen Kandl aber mit jeder Arbeit neu interpretiert. Als habituell durch seine Offenheit Unentschiedener-oder durch seine Unentschiedenheit Offener? ,,Ich glaube nicht an schlüssige, fertige Formulierungen und kann deshalb auch keine abgeschlossenen Statements liefern“, sagte er einmal, 1995 – gebraucht Kandl das Konzept einer vorgeplanten Annäherung an Unbekannte(s) als eine Art in der Praxis anwendbare Metapher für eine zwar offensiv vorgetragene Neugier, die aber ein gewisses Maß an Kontrolle – Reserve?nicht zu verlieren trachtet. Die Suche nach den Eigentümlichkeiten des ,,Fremden“, die spontane Freude am Entdeckten, beinhaltet zugleich den Respekt vor ihm, der ohne solche Distanz rasch in Vereinnahmung zu mutieren vermag, in eine falsch verstandene ,,Identifikation“ des Neugierigen mit dem Objekt seines Interesses – eine Falle, der Kandl still, aber beharrlich ausweicht.