Von der Erdung zur Leidenschaft
„Jeder kann singen!“ – mit diesem Leitspruch prägt Erwin Ortner die österreichische Chorlandschaft nun schon seit rund sechs Jahrzehnten. Diese Einladung, der Kulturtechnik Singen in unserer Gesellschaft ausreichend Raum zu geben, ist bei Ortner aber nicht als Freibrief zum kritiklosen „Nachsingen“ zu verstehen. Er selbst lebt es vor, dass ein Talent nicht sich selbst überlassen werden darf, sondern durch konsequente Arbeit, durch tägliches Üben, weiterentwickelt werden muss. Er tut es bis heute – in der täglichen Chorprobe mit seinem Ensemble.
Schon als Vorschulkind erhielt er Klavierunterricht bei Christl Hauser, die sein musikalisches Talent erkannte. Dann ging es rund um den Globus mit den Wiener Sängerknaben unter dem legendären Chorpädagogen Ferdinand Grossmann. Nach dem Gymnasium folgten an der Wiener Musikhochschule Studien in Musikpädagogik, Kirchenmusik und Dirigieren. Dieser Institution blieb er treu: 1980 bis 2016 war er ordentlicher Professor für Chordirigieren, 1996 bis 2002 stand er der Universität für Musik und darstellende Kunst als Rektor vor. Außerhalb der Universität war er unermüdlich bei Chorleiterweiterbildungen, Meisterkursen und Gastdirigaten unterwegs. 2010–2022 war er der letzte Wiener Hofmusikkapellmeister und leitete den ORF-Chor bis zu dessen Auflösung.
Erwin Ortners Chorleiterkarriere begann schon früh: Bereits als Teenager scharte er Gleichgesinnte um sich – die Katholische Jungschar seiner Heimatpfarre St. Othmar in Wien bot den Rahmen für erste Chorleitungsversuche. Rasch stiegen die eigenen Ansprüche, und der aus dem Kammerchor St. Othmar hervorgegangene „Arnold Schoenberg Chor“ ersang sich einen Platz in der österreichischen Musikszene.
Musik und Menschen zum Klingen zu bringen und sinnvoll für andere erfahrbar zu machen – dieses Ziel verfolgt Ortner mit großer Leidenschaft und viel Energie. Er bringt sich schon in jungen Jahren in Institutionen wie dem Österreichischen Bundesjugendsingen und dem Österreichischen sowie dem Niederösterreichischen Chorverband ein, gründet in den 70er Jahren im Schloss Rosenau die Musikfabrik NÖ und in Krems die Chorakademie (die er bis heute leitet). Die Etablierung der „Chorszene NÖ“ als Plattform für das Chorsingen in NÖ unterstützt er vom Anfang an durch seine Kompetenz.
Ortner: „Es ist das Wort und dessen Sinn, das uns Chorsängerinnen und Chorsängern die Möglichkeit gibt, die Intentionen der Komposition eindringlich zu vermitteln. Wir müssen erkennen, WAS wir singen“. Wesentlich für dieses Credo und den künstlerischen Weg des Arnold Schoenberg Chores war – nach eigener Aussage – die jahrelange enge Zusammenarbeit mit Nikolaus Harnoncourt. Unter dessen Leitung wurde die Aufnahme von J. S. Bachs „Matthäus-Passion“ mit dem Arnold Schoenberg Chor mit dem „Grammy Award“ ausgezeichnet. Die Liste weiterer Auszeichnungen und Preise ist lang.
Ortners Zugang zum Chorleiten ist ein ganz klarer – und dreifacher: Es geht darum Menschen als Gruppe zu führen, als umfassend ausgebildeter Dirigent künstlerisch mit ihnen zu arbeiten und als Musikpädagoge weiterbildend tätig zu sein.
Und über allem dem steht: die Erdung und die Leidenschaft.
Gottfried Zawichowski