Anleitung zur Mündigkeit
Was immer man über Albert Drach auch aussagt, es ist falsch. Schon vor dem nächsten, spätestens nach dem übernächsten Satz kippt es unvermittelt in den Gegensatz. Beheimatet in der Antithese, schlägt der Dichter mit seinen Gedichten, Romanen, Erzählungen, Essays und Theaterstücken allem Festgelegten, Verkrusteten, allen nur sich selbst reproduzierenden Thesen ins Gesicht.
Sein ureigenstes Reich ist das Reich des Geistes, der da weht, wann immer und wo immer er will. Ein Ariel vielleicht, mit dem er etwa in seiner ,,Unsentimentalen Reise“ Anmut und Leichtigkeit teilt, von Schauplatz zu Schauplatz, von einem Erzählstrang zum andern assoziativ hinüberzuwechseln. Auf jeden Fall aber ist er ein Proteus, der stets darauf aus ist, die Vieldeutigkeit der Realität ebenso aufs Korn zu nehmen wie die Vieldeutigkeit ihres reflektorischen Äquivalents, die Wahrheit.
Um nicht missverstanden zu werden: Drach ist weder ein Vertreter jenes kauzigkaustischen Humors Herzmanowsky-Orlandoscher Prägung, dessen späte Nachfahren unsere literarische Landschaft auch heute noch in großer und, wie ich meine, viel zu großer Zahl bevölkern; noch lässt er sich ohne Krampf zu den Nachkommen der Surrealisten rechnen. Will man ihm schon ein literarisches Korsett verpassen, dann wird es wohl eines sein müssen, das dem Zuschnitt wie seiner Machart nach jener absurden Weltsicht gleicht, die man gemeinhin mit Ionesco und Beckett verbindet.
Dabei darf man jedoch nicht übersehen, um wie vieles früher Drachs Theaterstücke konzipiert worden sind als die Theaterstücke der Ahnherrn des absurden Theaters: „Das Aneinandervorbeispiel und die inneren Verkleidungen“ bereits 1922; „Marquis de Sade“ nicht später als 1926/27; „Das Spiel vom Meister Siebentot und weitere Verkleidungen“ etwa um die gleiche Zeit, also ab 1926. Dass Drachs Arbeiten hingegen erst wesentlich später veröffentlicht werden sollten, kann man getrost der Verlagsmisere des deutschen Sprachraums zuschreiben. Doch beginnt Drach so zart sein physischer Körper auch ist -, diese Zwangsjacke der Kategorisierung alsbald selbst zu sprengen.
Denn Albert Drach ist, wie alle großen Satiriker, wie alle überragenden Ironiker, seiner Erzählhaltung nach Realist. Und fast hat es den Anschein, als könne ein Moralist, ein über das Leben, die Menschen und die Gesellschaft Nachdenkender, über ihre Missstände Urteilender, gar nichts anderes zu Papier bringen als Satiren. Difficile est satiram non scribere! Jede Satire setzt aber die genaue Kenntnis, die akribische Bestandsaufnahme jener Wirklichkeit voraus, die sie geißelt. Sie muss den Menschen aufs Maul schauen, bevor sie ihnen aufs Maul schlägt. Deshalb ist der Dialog das ureigenste Betätigungsfeld des Satirikers, der immer aus dem Belegten und Belegbaren herausschreibt. Erzählen lässt sich eine Satire nur schwer. Setzt sie doch ein erzählendes Subjekt voraus, das immer nur allzu leicht Gefahr liefe, zu deren Objekt umzukippen. Auf das Maul sehen also. Dem Helden aufs Maul sehen, ihn der Lächerlichkeit preisgeben. Denn für die absurde Weltsicht gibt es den Helden im klassischen, im romantischen Sinn schlechterdings nicht. Bleiben nicht selbst die, die ihre Köpfe aus dem Sumpfder Zeit emporzurecken suchen, nach wie vor den satanischen Mächten eben dieser Zeit unterworfen? So sind, in der Sicht des Absurden, die Mächtigen eigentlich ohnmächtig. Irrende, sich Verirrende, schwach wie die Machtlosen und machtlos wie die Schwachen. Ihre Machtbesessenheit ist ebenso grotesk wie die Versuche der Schwachen, sich durch das Erfinden grotesk verschlungener Wege aus den über sie verhängten Verhängnissen zu erretten. Ihre Schuld, wenn von Schuld füglich überhaupt die Rede sein kann, ist, dass sie das Alltägliche, Banale dämonisieren und ihm somit einen Stellenwert zuordnen, der ihm, nüchtern besehen, gar nicht zukommt.
Die eigentümliche und unverwechselbare Dramaturgie Drachs besteht nun darin, für die paradoxen Situationen und Handlungsabläufe, in die er seine Helden, seine leidenden Helden versteht sich, stellt, immer neue Metaphern und Symbole zu setzen, um durch den Wechsel auf die im Grund unveränderbare, im Wesen gleichbleibende Tragik hinzuweisen. Durch die vielfältigen Verkleidungen wie Drach seine Szenen und Verwandlungen nennt- gelingt es dem Dichter, die unter der Oberfläche des Daseins wirkende Absurdität alles Seins aufbrechen zu lassen. Ein Pantragismus also, der sich bitter satirischer Mittel bedient oder die Menschen durch die Brille des distanzierten Ironikers anschaut durch die Brille des ,,Monsieur le vivisecteur“, um mit Robert Musil zu sprechen.
Nie sind die Ebenen von Drachs Stücken eindeutig festzulegen. Sie kippen um, vertauschen ihre Akzente und interpretieren einander. Der Schaubudenbesitzer im „Spiel vom Meister Siebentot“ erfährt im Verlauf der Handlungen eine grausige Verwandlung zum Tod und entlässt den Zuschauer am Schluss des Stückes wieder als Schaubudenbesitzer. Nichts ist festgefügt darin; alle Bezugsebenen gleiten. Nur die Phrasen der Handelnden bleiben gleich und verhelfen denen, die sie nachplappern, zu persönlichem Ruhm und politischem Aufstieg.
Wie im Wiener Volksstück schlägt die Satire alsbald ins Groteske um. Ein bitterböses Kasperlspiel, das uns auf die hohlen Phrasen des politischen Lebens aufmerksam macht. Auf verwandte Art und Weise enthüllt die „Verkleidung“ über Marquis de Sade die Paradoxie und Absurdität öffentlichen Urteiles, gesellschaftlicher Moral. So lange de Sade, bei Drach die graue Eminenz der französischen Revolution, Böses, ja Verbrecherisches getan hat, ist er belohnt worden. In dem Augenblick aber, in dem er einmal Gutes tut, wird er hingerichtet. Der bittere Schluss, zu dem dieses ,,Satyrspiel vom göttlichen Marquis“ kommt, ist die Erkenntnis der Verworfenheit, der Schlechtigkeit und der Entartetheit der Welt.
Trotz seines beißenden Spottes über die conditio humana wäre es falsch, in Albert Drach einen Moralisten zu vermuten. Er ist selbst in seinen Theaterstücken und vielleicht wäre es korrekter zu sagen: Gerade in ihnen Realist, ein Realist allerdings, der durch seine Verkleidungen die anvisierte Realität bis zum Kulminationspunkt steigert, emporpeitscht. Er ist aber vor allem deshalb kein Moralist, weil es ihm fernliegt, uns andere Lehren mitzugeben als wir selbst imstand sind, aus seinen Stücken zu ziehen. Alles andere wäre ja Ideologie: eine jener sinistren Ausgeburten des absurden Daseins. Ein Dichter also, der es versteht, uns allein zu lassen, indem er uns begleitet, weil er trotz allem hofft, uns zur Mündigkeit anzuregen.