Kühn Unscheinbares in den Blick nehmen
Gewohnte Konventionen der Wahrnehmung und des Daseins werden im in Entstehung begriffenen, gewürdigten Kurzprosaband Windpost (2021) und im Roman Die Frau auf meiner Schulter (2018) kurzerhand abgestreift. Die beiden neuesten Werke der Autorin Andrea Winkler geben bruchstückhaftem, unscheinbarem und kühner Beobachtung den Vorzug und entziehen sich dabei einer auf eine Pointe zugespitzten Handlung.
Auf den ersten Blick bringt die sprach- und formbewusste Schriftstellerin lose Enden von Geschichten, Motiven und Figuren ins Spiel, die sich nach und nach zu einer subtilen Gesamtkomposition fügen.
Die teils in Wien und in Niederösterreich lebende Schriftstellerin portraitiert in Die Frau auf meiner Schulter eine aus der Zeit gefallene Protagonistin, Martha. Im Alltag reduziert diese ihre Handlungen auf das Allernotwendigste, unternimmt Spaziergänge und ist nach wortkargen Monaten schließlich bereit für den Austausch mit den Randfiguren des Dorfs. In der Hängematte schaukelnd nähert sie sich ihrem Ziel: „durch die Zweige und Äste ins Blaue zu schauen und angesichts der sich überall erstreckenden Weite Vergangenheit und Zukunft zu vergessen!“
Reisen, Ankommen und das Aufspüren von Gemeinschaft bilden auch im Kurzprosaband Windpost zentrale Motive. Neugierig geht die Ich-Figur ihrer Wahrnehmung der unmittelbaren Umwelt auf den Grund – in allen und allem könnten mögliche Gefährtinnen und Gefährten stecken – und sucht den Austausch mit anderen: „Stellen Sie sich (…) vor, dass Sie in einer alten Geschichte mitspielen (…). Hören Sie, was auch immer Sie wollen.“
Winklers Texte erproben neue (alte) Formen des Daseins und fungieren als scharfsinnige literarische Beobachtung, die es ermöglicht, die Wahrnehmung der Welt bei ihren Leserinnen und Lesern nicht nur zu schärfen, sondern zu erweitern. Zurückhaltend agierend entlässt die Schriftstellerin Dinge, Menschen, Tiere und die Natur in ihre Eigengesetzlichkeit. Diese Literatur erschüttert eingeschliffene Formen der Wahrnehmung und erlaubt dadurch neue Blickwinkel auf die Welt, die unverhofft Schönheit und Sinn zugänglich machen.