Annemarie Moser

Literatur

Leben und Werk – authentische Sinneinheit

Jedes bedeutende Kunstwerk setzt einen Menschen voraus, der sensibel, mitfühlend und opferfähig genug ist, den Zwiespalt der Gesellschaft und seines eigenen Charakters, aber nicht zuletzt auch die Polarität der Schöpfung nicht nur zu erfahren, sondern all diesen Konflikten auch noch in deren Höchstspannung standzuhalten, denn just in der Labilität der Krisen liegt der Keim, aus dem seine Begabung· ein gültiges Werk zu entwikkeln und zu vollenden vermag. Künstlerische Leistungen, welche den Menschen Wege der Läuterung, der Überwindung, ja der Freude öffnen, gehen zumeist aus dem Leiden hervor. Oft sind es ja die zählebigsten Schöpfungen der Kunstgeschichte, die ihr Entstehen Menschen verdanken, bei denen eine übernormale innere und äußere Belastung der künstlerischen Freiheit keinerlei Abbruch getan, ja sie vielmehr bis an die Grenze der Entfaltungsmöglichkeit gebracht hat: ,,Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen“, soll einer der großen Leidbeladenen gesagt haben, den die Hauptschülerin Annemarie aus Wiener Neustadt in ihrem privaten Pantheon aufgestellt hat. Sie wußte damals noch nicht, wieviel an Kämpfen ihr selbst noch abverlangt werden sollte, einerseits um ihr psychisches Überleben in bedrohlicher Krankheit, andererseits um ihre künstlerische Erweckung in materiell bitter beengenden Verhältnissen zu erreichen. Jetzt in der Rückschau auf diesen Lebensweg, von dem drei Romane Zeugnis ablegen, wird klar, daß der vierte Roman „Andeutungen eines lebendigen Menschen“ (1991), eine kompositorisch ausgewogene, tiefschürfende Leistung modern-poetischer Prosa, nur als Ergebnis dieses Ringens um Gesundheit und Kunst hervorgehen konnte, denn in ihrer Jahrzehnte währenden Auseinandersetzung mit psychischen Leiden hat die Autorin erfahren, wie unzureichend es ist, die Lebendigkeit des Menschseins in gesund und krank künstlich zu spalten. Aufgabe einer humanistischen Kunst muß es sein, lebendig, also integrativ, zu bleiben, was bedeutet, keinesfalls mit Reizungen zu spielen, welche von einer oktroierten Pathologie in Sprache und Phantasie ausgehen. Bezeichnen also die ersten drei Romane ,,Türme“ (1981), „Vergitterte Zuflucht“ (1982) und ,,Das eingeholte Leben“ (1986) Stationen auf dem Weg, so manifestiert sich im vierten Roman das Ziel: Alle Gegensätze von gesund und krank, von Fatum und Freiheit, von Erbe und Selbstverwirklichung, von Individualität und Gerechtigkeit können nur in Hinwendung zur Transzendenz eine Auflösung oder zumindest Beruhigung finden. Ein solcher therapeutischer Stationscharakter der ersten drei Romane mindert keineswegs deren Bedeutung, wie dies auch die Professoren Viktor E. Frankl, Erwin Ringel und Hans Strotzka bestätigt haben. Kunst als Therapie kann ja nur dort abwertend empfunden werden, wo der mythische Bezug von Heilung und Kunst ebenso übersehen wird wie die derzeitigen Versuche, in einer auch psychisch immer mehr gefährdeten Zivilisation die Heilkräfte nutzbar zu machen, die im ästhetischen Bereich liegen. Die Besonderheit dieser drei Romane liegt darin, daß sie Protokollarisches mit dem Fiktionalen nahtlos verbinden, sodaß Therapie und Fall-Geschichten mit dem Bildungsroman beziehungsweise Entwicklungsroman identisch werden. Somit ergänzen einander die Authentizität des Details und der zusammenfassende Panoramablick über Schicksalskurven in unserer Epoche. Wie Augustinus seine Confessiones im Angesicht Gottes als Beichte ablegt, so wendet sich im ersten Roman die leidende Protagonistin an ihren allzu früh verstorbenen Vater, ihren Dada. Natürlich haftet an dieser blassen Erinnerungsgestalt die Unschärfe eines vielseitig deutbaren und im pubertären Bewußtsein verwendbaren Mythos, der in immer neuen Rollen und als wechselnde Bezugsperson das vereinsamte Mädchen begleitet. Die Dichterin schreckt auch davor nicht zurück, den Verführungsfluch einzubekennen, der in einem solch omnipotenten Vatermythos für ein labiles Wesen liegt: In dem Bedürfnis nach Größe und Übermächtigkeit hätte ihr Dada mit den totalitären Zügen Hitlers zum Rattenfänger werden können, dessen schwarzer Magie man nicht entronnen wäre. Die Pendelbewegung zwischen totalitärer Weltanschauuung und polyvalenter Wirklichkeitsdeutung, zwischen fundamentalistischem Diktat und demokratischer Wählbarkeit scheint zum unabdingbaren Phänomen der Geistesgeschichte zu gehören; Gegensätze, die einander wechselseitig bedingen und ablösen. Führt der Totalitarismus zu Wahnvorstellungen, so bringt der Pluralism us eine bis zur Identitätsauflösung gehende Unschärfe mit sich. Somit pendeln wir zwischen zwei Krankheitsformen. Zwischen ihnen liegt die sogenannte „Normalität“,welche sich durch Greuelfilme, Sexschocks und Brutalitätsexzesse aus ihrem schläfrigen Wohlstandsbehagen herausreißen läßt. Deshalb sagt die Dichterin: ,,Wir Kranken wissen mehr, jawohl, wir erleben die Konflikte mit voller Deutlichkeit, diese Konflikte entstammen derselben Realität, die auch der Gesunde erlebt, an uns wird sie deutlich, wir sind Signal.“ (Vergitterte Zuflucht, Seite 104). Wem aber lastet man das Weltdefizit an? Wer ist schuld, so fragen die Leidenden und rufen aus: ,,Es ist das Erbe …!“ Diese Idee vom Erbe bei einem fünfzehnjährigen Mädchen kann aber nicht all die zeit- und we ltges chi-ch tlichen Implikationen erfass en, die jede Generation mit sich herumschleppt. Also wird die Schuld dem Elternhaus und dem Milieu angelastet. Steigern im ersten Band Einsamkeit und Abkapselung die Depression bis zur Panik, so wird in der Klinik unter den Patientinnen die Schuld an der Krankheit zum wichtigsten Diskussionsthema, das sich in den Fallgeschichten zwar vielfältig spiegelt, aber auf keinen Punkt bringen läßt: „…Wie das ineinandergeht… so fließend, daß man nicht genau sagen kann, wo die Kankheit anfängt.“ (Vergitterte Zuflucht, Seite 89). Ebensowenig kann man die Schuld auf eine Person oder auf ein Faktum wie Krieg, Wohnverhältnisse, Ehebruch oder Umwelt lokalisieren. Deshalb ruft sch ließ li ch eine Patientin: ,,Schuld … das ist mir zu theatralisch.“ Kettet uns aber nicht auch die Kausalität anstelle von Schuld entfremdend und verdinglichend an einen unabsehbaren Ursprung? An die „Gesunden“, wie eine Patientin vermutet. Zumeist ist es doch die Kluft zwischen subjektiver und objektiver Wirklichkeit, welche den Absturz in die Krankheit auslöst. In der Übertreibung der Subjektivität liegt einerseits ein anarchischer Explosivstoff, andererseits die Hemmung, über den eigenen begrenzten Horizont hinauszukommen. Als Prinzip liegt dem Roman Tripel die Überzeugung zugrunde, daß es möglich ist, subjektive und objektive Wirklichkeit, wenn schon nicht zur Übereinstimmung, so doch zur Annäherung und Harmonie zu bringen, zu einem produktiveren Verhältnis als die bloße Toleranz. Bei den Protagonistinnen der Autorin kommt es daher immer wieder zur Rücknahme der Schuldzuweisung, zur Annäherung, ja Aussöhnung in konfliktgeladener Atmosphäre. Wenn auch die Reizbarkeit und Irritabilität der Protagonistinnen unverkennbar hoch liegt, so steht dem ein Wille zum Ausgleich gegenüber, der sich in Romanschlüssen mit beruhigender Abschiedskadenz ausdrückt und bestätigt. überaus prägnant ist das alles in einem Gedicht zusammengefaßt: Ich lasse/ mich / hinter mir // du läßt I dich I hinter dir II aber wir dürfen I keinen I hinter uns lassen der noch nicht so weit ist (Umbruch des Herzens, 1984, Seite 87) Im letzten Roman der Dreiheit erschließt uns die ungewöhnlich feinsinnige Beobachtungsgabe, die sprachliche Geschmeidigkeit und die Wachheit unserer Dichterin gegen über den Signalen der Symbole Schicksalsformen, die sich trotz aller Belastung, Verstrickung und Verwirrung jenseits des Klinischen zu halten vermögen bzw. klinische Praxis in ihren Alltag als Autotherapie einbauen. Somit steht der Weg zu Annemarie E. Mosers letztem Roman offen, einer Begegnung mit der emigrierten Rumänin Mioara, die in Wiener Neustadt durch unermüdliche Arbeit die Voraussetzung schaffen will, um auch für ihren in Rumänien verbliebenen Mann und das Kind die Einreise- und Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. In dieser Ausländerpolitik-Geschichte entfaltet sich aber ein allgemein menschliches Dilemma: das Sich-Verständlichmachen von Mensch zu Mensch, das Verstehen schlechthin. Vordergründig liegt die Schwierigkeit für beide Frauen in der Fremdsprache, doch dahinter steht die unterschiedliche Sprachbeziehung. Während der Schriftstellerin die Sprache zur Heimat geworden ist, die sie wie ein Brutnest fürsorglich und kenntnisreich auspolstert, ist Sprache für die Hilfsarbeiterin nur ein Vehikel für praktische Hinweise. Dem Denkapparat Sprache „entsprechen“ die stummen Hände der Arbeiterin. Und was besagt mehr? Zuletzt aber stoßen zwei Phasen europäischer Geschichte aufeinander: ,,Ich stand neben ihr als Luxusgeschöpf in Schuhen aus weichem Leder…“, sagt Annemarie (Seite 54). Wir Leser aber wissen, welchen Knüppelweg Annemarie mit ihren 400 Schilling Monatsgehalt als Lehrling durchschritten hat. Und trotzdem ist der Satz keine Übertreibung. Zwischen Ost und West ist wie in einem kommunizierenden Gefäß die Ungleichheit durch Machtpolitik, Haß und Unterkühlung eingefroren und stabilisiert worden. Nun hat das Tauwetter um sich gegriffen und eine Überschwemmung ausgelöst, ein Ereignis, dessen Folgen unabsehbar geworden sind. Hoffnung kann nur aus dem Verstehen kommen, aus dem so vielfältig GeschichtlichSozialen und schon in seiner Urflocke als Logos metaphysisch gefärbten Wort. Solche Kulmination beweist, daß Birgit Langer in ihrer Diplomarbeit 1996 recht hat, in Annemarie E. Moser nicht die Schriftstellerin in einem kommerzialisierten Beruf, sondern in einer geistigen Haltung zu sehen, bei der Leben und Werk zufolge ihrer Symbiose eine authentische. Sinneinheit bilden.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 1996