Wie wird ein Ort zu ORTE?
Die Brücke schwingt sich «leicht und kräftig» über den Strom. Sie verbindet nicht nur schon vorhandene Ufer. Im Übergang der Brücke treten die Ufer erst als Ufer hervor. Die Brücke lässt sie eigens gegeneinander über liegen. Die andere Seite ist durch die Brücke gegen die eine abgesetzt. Die Ufer ziehen auch nicht als gleichgültige Grenzstreifen des festen Landes den Strom entlang. Die Brücke bringt mit den Ufern jeweils die eine und die andere Weite der rückwärtigen Uferlandschaft an den Strom. Sie bringt Strom und Ufer und Land in die wechselseitige Nachbarschaft. Die Brücke versammelt die Erde als Landschaft um den Strom.
Martin Heidegger, Bauen Wohnen Denken
Nach dem berühmten Brückengleichnis von Martin Heidegger erzeugt erst die Architektur – bei Heidegger eine Brücke –einen Ort. Ohne Architektur gäbe es demnach keinen Ort, nur eine Gegend. Wenn wir dabei aber von Niederösterreich sprechen, dann muss man im gleichen Atemzug auch über die Brücke selbst sprechen. Sie heißt im nämlichen Fall: ORTE. Während der ganzen jüngeren Geschichte der zeitgenössischen Architektur in Niederösterreich – und seit zwanzig Jahren ist das zugleich auch die Geschichte von ORTE –spielte ORTE als Brücke, als Verbinder, als Vermittler eine wichtige, vielleicht eine entscheidende Rolle. Aber was genau ist eigentlich ORTE?
Ein Ort ist eine geometrische Menge für die Beschreibung von Siedlungen oder von Sternen. Ein Ort ist eine Ahle, mit der man Löcher stechen kann. Ein Ort ist ein Volumen. Ein Ort ist ein heraldischer und ein numismatischer Begriff. Ein Ort ist Teil einer Hiebwaffe. Drei Gemeinden in Oberösterreich heißen Ort. «Ort» ist also ein Begriff unterschiedlicher Bedeutung. In der Mehrzahl aber – ORTE – wird er schlagartig unverwechselbar. ORTE ist ein landesweit agierender Verein, der zeitgenössische Architektur in Niederösterreich fördert und vermittelt. ORTE gibt Architektur in Form von Ausstellungen, Vorträgen, Diskussionen, Symposien, Workshops und Exkursionen Raum. ORTE ist eine Vereinigung, die hochwertige zeitgenössische Architektur aus Niederösterreich publiziert. Alles bestens also?
Man könnte es vielleicht so sagen: ORTE spielte in den letzten zwanzig Jahren bezüglich der Entwicklung der modernen Architektur im Land Niederösterreich sowohl eine total untergeordnete als auch eine übermächtige Rolle. Der Extremismus des Daseins von Organisationen wie ORTE ist nämlich gekennzeichnet durch die widersprüchliche Rezeption und Bewertung von zeitgenössischer Architektur im Land. Bei vielen Einwohnern löst die Kombination Niederösterreich plus zeitgenössische Architektur leider immer noch ratloses Schulterzucken aus. Andere wiederum werden – vielleicht durch einen Impuls von ORTE ausgelöst – gute Bilder eines sich rasant erneuernden Bundeslandes vor dem inneren Auge haben, denn ein Indikator von Erneuerung ist nun einmal qualitätsvolle zeitgenössische Architektur. Beide Seiten haben recht: Es ist (leider) durchaus keine Kulturschande, nichts von einer jüngeren Architekturgeschichte des Landes Niederösterreich mitbekommen zu haben, aber es ist andererseits auch möglich, diese Entwicklung auf unterschiedliche und sehr niveauvolle Art mitverfolgt zu haben. Diejenigen, die in den letzten Jahren wach geworden sind für die zeitgenössische Architektur, wurden dies zu einer hohen Wahrscheinlichkeit dank ORTE.
Niederösterreich ist eben dort, wo es schön ist, unfassbar schön und dort, wo es hässlich ist, unfassbar hässlich. Dazwischen bewegt sich vermittelnd ORTE so, wie sich das berühmte Eichhörnchen Ratatöskr auf Yggdrasil, der Weltesche der nordischen Mythologie, ununterbrochen und unermüdlich zwischen den Kräften vermittelnd, auf und ab bewegt. Mal muss ORTE gegen Furchtbares mahnend die Stimme erheben, mal darf es Gelungenes stolz loben. Die Unermüdlichkeit der Protagonisten von ORTE – Architekten, Journalisten, Kulturvermittler – macht den Erfolg von ORTE aus. Wenn Niederösterreich mit moderner Architektur auf der nationalen oder internationalen Landkarte erscheint, verdankt es diese Sichtbarwerdung den unermüdlichen Architekturvermittlern von ORTE. In einem Team ist es müßig, einzelne Namen hervorzuheben. Im Falle von ORTE muss es aber dennoch getan werden. Der Erfolg von ORTE wäre nicht möglich gewesen ohne Walter Zschokke (†2009), der sich in Niederösterreich verortet hatte und ORTE entscheidend mitprägte. Dieser Würdigungspreis ist auch ein bisschen seiner.
Fassen wir zusammen: ORTE steht für gute, richtungsweisende Architektur aus Niederösterreich: Wenn also jemand ein guter Würdigungspreisträger ist, dann ist das ORTE, und wenn es ORTE nicht ist, dann ist es niemand. Eine hochverdiente und wichtige Auszeichnung: herzlichen Glückwunsch, ORTE!