Barbara Neuwirth

Literatur

Unerschöpflicher Variantenreichtum

Bald schon wird sie Erinnerung sein: die undurchlässige Grenze zwischen Österreich und der Tschechoslowakei. Eine Grenze, so dicht, dass nicht einmal Füchse in der Nacht unbemerkt von einem Staat in den anderen wechseln konnten. In diesem extremen Grenzland wuchs die 1958 geborene Barbara Neuwirth auf. Die Region ist aber auch in einer weiteren Hinsicht ein Grenzgebiet: das liebliche Weinviertel und das rauere Waldviertel. Pflanzen, die im Weinviertel gedeihen, sind im Waldviertel völlig chancenlos.
Die Autorin hat auf diese eise erfahren, was Grenzginge bedeuten können. Die scheinbare Distanz zum einen bewirkt auf wunderbare Weise die Nähe, weil plötzlich klar wird, es gibt nichts Selbstverständliches in der Umwelt. Diese Haltung. in der Kindheit sicherlich unbewusst, wurde durch das Studium der Ethnologie verstärkt. Vieles, was sich so selbstverständlich, gleichsam naturgegeben, im Leben ausnimmt, erweist sich als Ritual, als Konvention, als Bestimmungsleistung einer Kultur.
Von dieser Voraussetzung ausgehend, ist die schriftstellerische Arbeit von Barbara Neuwirth eine Entdeckungsreise, die dasagnis unternimmt- ganz im Gegensatz zu den käuflichen Entdeckungsreisen – blinde Flecken zu orten und zu beschreiben. Blinde Flecken ergeben sich in der Sprache meist dann, wenn Gefühlsbereiche, die an sich verbal sind, in Worte zu fassen sind. Da hat es die abstrakte Malerei leichter, sie kann völlig gegenstandsfrei seelische Befindlichkeiten darstellen, die freie Musik vermag sich in völlig neuen Klangbildern ergehen, fiür die Sprache gibt es entweder den Weg in die Lautmalerei, was an die Möglichkeiten der Musik herankommt, oder sie wählt den Weg in eine scheinbare Phantastik, die Bilder aus Alpträumen oder dem Grenzbereich zwischen Wachsein und Schlaf beschwört. In diesem Grenzbereich mischen sich Gegenstände zu neuen Wesen, können namenlose Gefühle als Personen auftreten, gelten neue Gesetzmäßigkeiten. Diese Möglichkeit mit schier unerschöpflichem Variantenreichtum hat Barbara Neuwirth gewählt.
Häufig beginnt sie ihre Erzählungen mit Landschaftsbeschreibungen, die Gefühlswerte vermitteln. An diesen Schauplätzen, Konglomerate von tatschlich Erlebtem und aus dem innersten Ich hervorgebrachten Seelenlandschaften, entwickelt sie Geschehnisse, die von einem schrecklichen Dunkel der Welt berichten. Zwangsbeglückung. Gewaltanwendung. Hoffnungslosigkeit, Wahnsinn. Nicht grundlos tragen die Bücher die illustrierenden Titel: .In den Gärten der Nacht“ (Suhrkamp., Frankfurt/M. 1990) und .Dunkler Fluss des Lebens“ (Insel, Frankfurt/M. 1992).
In vielen der beschriebenen Velten scheint eine Eiszeit der Gefühle zu herrschen, die es nahezu nicht gestattet, die Begegnung zwischen Menschen als Wohltat, als Schutz zu empfinden. Ein Mann fragt die Ich-Erzählerin: .oher kommst du? Die Erzählerin antwortet: .Ich weiß es nicht.“ Die folgenden Sätze verstärken die negative Stimmung: .Aber in seinem Gesicht entdeckte ich Misstrauen und Sorge, und Sorge und böse Ahnungen waren in meinem Herzen.“
Nur der zweimal auftauchende Begriff Sorge mildert ein wenig die Kälte der Situation. Stünden statt des Worts Sorge die Begriffe Zorn und Angst, wäre die Beklemmung noch brutaler.
Beispiele für die Ausweglosigkeit, in der sich die handelnden Personen bewegen, sind zahlreich z finden. .Ich presste die Hände auf die Ohren. Diese Stadt war voll von wilden bösen Gedanken. Was immer uns heraufgelockt hatte aus den Tiefen der menschlichen Ebenen, überschüttete uns nun mit einem Wahnsinn, den kein Mensch ertragen konnte. Wie ein riesiges Spinnennetz war die Stadt ausgelegt hier im Eck des Hochplateaus, den Ricken genüsslich an Gipfeln reibend, lauerte sie auf solche wie uns, die willig heraufkamen.“
Das bedrohliche Bild der Stadt, die gleich einem Spinnennetz die willig heraufkommenden Menschen einfängt, ist in zweifacher Hinsicht interessant. Nicht nur als apokalyptisches Bild der Phantastik, sondern auch als Zustandsbeschreibung der Wirklichkeit, die von Wissenschaftlern seit Jahren facettenreich abgehandelt wird. Der Lebensraum Stadt für Europa der Ausgangspunkt aller moderner, kultureller Bewegungen ist in seinem Bestand gefährdet. Städte sind unbewohnbar geworden, gleichen einem Moloch, der alles verschlingt, um es in wirtschaftlich Verwertbares umzuwandeln.
In Barbara Neuwirths Erzählungen sind immer wieder diese Verknüpfugen festzustellen. Die Gnadenlosigkeit der Verhältnisse -jeder der ein wenig aufmerksam die Berichte in den Medien verfolgt, weiß, wovon die Rede ist muss von sensiblen Menschen erdrückend empfunden werden.
Die ethologische Literatur verfügt über einen unerschöpflichen Reichtum an Darstellungen, welch fein ziselierte Beziehungsgeflechte zwischen Menschen einerseits, sowie (Um-)Welt (Tiere, Pflanzen, Flüsse, Berge) und Menschen andererseits im Laufe der unterschiedlichen Entwicklung der einzelnen Kulturen entstanden und wie diese feinen Beziehungsgeflechte zerrissen worden sind. Neuwirth hat sich für diese scheinbare Phantastik entschieden, die Metamorphosen als Bilder braucht, um die Ambivalenz zeigen zu können. Ihre beschriebenen Personen sind häufig nicht gefühlskalt, sondern unempfindlich an Leib und Seele: .Sie presste den Arm fest an ihren Körper, die Rose drückte ihre Dornen gegen das weiße Fleisch, aber Rina verspürte keinen Schmerz.“
Barbara Neuwirth ist eine Chronistin des Unbehagens, die mit wachen Augen in die Welt hineinsieht und ihre Erfahrungen gnadenlos thematisiert. Das geschieht auf eine Weise, die als exemplarisch auch für andere Menschen zu sehen ist. Es geht also nicht darum, das eigene Weh und Ach zu benennen, auch dann, wenn es durchaus als Motor der Ästhetisierung bisweilen zu erkennen ist, sondern um die eigene Rolle in der Welt darzustellen. Dazu gehört als integraler Bestandteil, dass Barbara Neuwirth als Fran unter ganz bestimmten Bedingungen besonders leidet und dass sie als Mitglied dieser Kultur besonders heftig reagiert. Sie möchte das Rüstzeug erstellen, das notwendig ist, um Verdecktes ans Tageslicht zu befördern. Auch dann, wen es gnadenlos und grausam erscheint, denn ihre Phantastik ist eine Möglichkeit, die unsichtbaren, weil internalisierten Gitterstäbe unseres Daseins zu zeigen.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 1993