Literatur der Aufmerksamkeit
Mit der Auszeichnung der Autorin Claudia Tondl geht der Anerkennungspreis des Landes Niederösterreich an eine Künstlerin, die keine Scheu vor dem Schwierigen, dem Schweren hat. Vor allem als Dramatikerin bekannt und mehrfach ausgezeichnet, hat Tondl ein bemerkenswertes Werk vorgelegt, das sich entlang der Leitbegriffe Aufmerksamkeit, Erinnerung und Verantwortung entwickelt – und weiterhin entfaltet.
Ihr beispielhaftes Projekt „Ein Ort und sein Gedächtnis – Klosterneuburg erinnert sich“ stellt, wie auch frühere Arbeiten, den Menschen ins Zentrum. Das literarische Sichtbarmachen von Erinnern und Vergessen, herausgearbeitet aus Interviews mit hochbetagten Menschen, bringt ein Werk hervor, das sich nicht zwangsläufig nur in umfangreichen Publikationen niederschlägt, sondern seine Wirkung im reflektierenden und reagierenden Prozess entfaltet.
Indem Tondl den Prozess sichtbar macht, entgeht ihre Literatur der Gefahr, als reines Verzeichnis von Verlusten wahrgenommen zu werden. Vielmehr handelt es sich um ein aufmerksames Schreiben, das aufzeigt, was wir als Gemeinschaft tatsächlich einbüßen könnten und können – und was es zu erhalten und aufzuzeigen gilt. An der Nahtstelle zwischen Fakt und Fiktion wird nicht nur die Position des Menschen, sondern auch die erzählerische Ausgestaltung von Identität, Erinnerung und Gemeinschaft hinterfragt.
Dabei ist Tondls Literatur – etwa wenn es um das Spannungsverhältnis von realem Ort und imaginiertem Raum geht – notwendigerweise sensibel und politisch aufmerksam; anders wäre ihre künstlerische Arbeit, das Verhandeln dieser komplexen Themen, nicht seriös leistbar. Die Fragen und Problemstellungen, denen sie nachspürt, sind heikel, die Erzählungen vom Selbst unvermeidlich widersprüchlich. Claudia Tondls Literatur ist somit nicht nur ein Dienst an der Kunst, sondern in erster Linie ein notwendiges Arbeiten mit und für Menschen.