Der Blick in die Tiefe des Lebens
Nachdem Franz Richter im Jahr 1948 achtundzwanzigjährig aus Rußland heimgekehrt war und dann als Werkstudent das zu Anfang des Zweiten Weltkriegs begonnene Chemie-Studium fortsetzte, zeichnete sich die Berufslaufbahn eines Gymnasialprofessors ab. Sie führte dann tatsächlich bis in das ,,Theresianum“, wo sie der Oberstudienrat Dr. Franz Richter schließlich beendete. Die im ersten Jahrzehnt des Berufslebens unter dem Einfluß eines ungeheuren geistigen Konsums vergorene Reife zeigt Früchte nicht nur in Form bemerkenswerter Beiträge des Pädagogen in der Fachzeitschrift ,,Erziehung und Unterricht“ und kündet von der Bereitschaft zum Wagnis des Fortschrittglaubens, sondern sie artikuliert sich auch literarisch im Gedichtband ,,Wir, die an den Grenzen wohnen“ (1955) gleichsam kontrapunktisch, als Wunsch zur Rückkehr zum Ursprung nach dem vorangegangenen Eingehen in das Grenzenlose. Sowohl der Roman „Diogenes ultraviolett“ (1964) als auch die Gedichte des Bandes ,,Anbruch der Vergangenheit“ (1964) stellen in einer Zeit noch nahezu blindgläubigen Wirtschaftswachstums-Denkens prometheische Möglichkeiten des Menschen in Frage und entladen sich in Erbitterung gegen dessen naturzerstörendes Wirken.
Ist so zum einen der Naturwissenschaft lehrende als Mit-Verantworter hervorgetreten, verschaffte ihm zum anderen die nun schon profilierte, von Metaphern und Analogien durchwirkte und von der Musik und der Chemie stark bestimmte Sprachgestaltung literarisches Gewicht. Der Theodor-Körner-Preis und der Preis der Stadt Wien für Literatur sind 1967 offizielle Anerkennungs- und Erwartungssignale an den Siebenundvierzigjährigen. Mit dem ,,Musterbeispiel dafür, wie man Wissenschaft verständlich machen und ein Fachgebiet mit seinen Grenz- und Nachbarbereichen Technik, Wirtschaft, Biologie oder Medizin in Beziehung setzen kann“?, lieferte Franz Richter im Sachbuch „Wir leben chemisch“ (1967) auch den Beweis einer von pädagogischem Eros geleiteten Begabung als Volksbildner, so daß die Anbahnung eines Nahverhältnisses des schon in Baden wenn auch nicht ausschließlich ansässig Gewordenen zum Niederösterreichischen Bildungs- und Heimatwerk und zu dessen Arbeitsgemeinschaft Literatur sich geradezu zwingend ergab. Sein Bekenntnis zu ihr überdauerte alle Stürme der niederösterreichischen Literaturszene unwandelbar.
Verdeutlichte alsbald der Essay, an Zahl und Aktionsbreite rasch zunehmend und sowohl von journalistischer Lebendigkeit wie von poetischer Schönheit geprägt, in der erhellenden Klärung von viel des Wissens und der Bildung Wertem den universalen Denker, so sein waches Reagieren zu Aktuellem den praktizierenden Humanisten. Der Literaturkreis Schloß Neulengbach bot und bietet ihm neben anderen Printmedien ein im Sinn des Wortes begreifbares PODIUM. In bis jetzt nicht weniger als dreihundert verstreuten Veröffentlichungen richtet er seinen und des Lesers Blick in die Tiefe des Lebens und schärft ihn für das Erkennen des Fragmentarischen und höchst Vorläufigen jeder Erscheinung. Er produziert Raster ins leere und gibt den Bildern, hinter Kristallgittern unser aller Gemeinsamkeiten aufdeckend, Gestalt.
Die Hörspiele ,,Keine Sintflut für Noah“ und „Hochzeitsreise ins All“ beinhalten Dialoge um Existenzielles, solche also um Glauben und Zweifel, sind poetische Spiele auch des Intellekts und Wegbereiter für die Fabeldichtung „Humanimales“ (1969). In deren Texten werden naturwissenschaftliche Findungen mit kühnem Griff in dichterische Symbolik herübergenommen und bereichern die auf Sparflamme des Soziologischen gesetzte Literatur um eben die Naturwissenschaft, auf welche sich die damalige Moderne kaum einließ. Ein Schritt, der allerdings nur möglich wurde, weil ausgedehnteste Kenntnis der Chemie, Physik und Biologie des Wissenschaftlers Franz Richter mit ebendesselben Dichters Vermögen der Sprache, der Symbolik und des Mythos‘ korrespondiert.
Will die „Kosmo-Rhythmik“ (1973) dem Einen und einigenden Gott ein Andachtsbüchlein aus der Erkenntnis der Naturwissenschaft sein, sind die Gedichte nicht weniger schon ahnungsvolle blumenhafte Öffnung des Musikers zum All hin.
Des Suchenden unter Zuhilfenahme musikalischer Symbole gefundene Markierung, die von den Vorsokratikern über Platin und Goethe zur Erkenntnistheorie der Valenz führt, mündet in der kosmische Relationen, Hintergründe und Ordnungen aufdeckenden Zone, die ohne Franz Richters Naturbetrachtung vielleicht noch Grauzone wäre.
Mit dem kurz schon darauf folgenden Buch, das das Wort Blume in den Titel stellt, nämlich ,,Im Wendekreis der Blume“ (1975), erreicht der Forscher und Dichter den von ebenso botanischer wie humaner Gültigkeit fixierten Höhepunkt zeitgenössischer philosophisch-poetischer Epik5. Ein Gebetsteppich wird entrollt, mit Blumen ornamentierte Gebetsnischen tun sich auf, und jäh spürt man den messerscharfen Muschelrand der Aphorismen. Zweitausend Jahre werden vom Disput zwischen dem Amerikaner Burbank und dem Athener So krates absorbiert; für Sendboten des Geistes reicht ein gewaltsamer Tod niemals aus.
Balanceakt der Gedankenschritte, kopernikanisch gewendete Annäherung an die Wirklichkeit, Schlegels Poesie der potenzierten Sprache, Wittgensteins philosophischen Inbegriff von der Sprachgrenze zur Weltgrenze, alles in Wahrnehmung derer, die in Stalingrad und Auschwitz für einen friedlichen Sonnenuntergang von heute gestorben sind, vermögen Franz Richters Gedichte in „trockengebiet“ (1980) erfahrbar machen°. Verkröche man sich auf die berühmte einsame Insel, sollte man nicht versäumen, auch diesen Gedichtband er hat außerordentliche Resonanz erweckt in den Koffer noch hineinzupressen.
Zuletzt sind es die aus einer Vielzahl ausgewählten und im Band „Kein Pardon für Genies“ (1982) vereinten Charakterbilder zwölf Erzählungen, in denen sich Lebensbericht und historisches Porträt, biografische Dokumentation und psychologische Entschlüsselung zu einer neuen Darstellungsform verbunden haben“, die faszinierendes Lese-Erlebnis bereiten. In jedem der FallBeispiele elenden Zusammenbruchs gibt es auf die Frage nach der Höhe des menschlichen Preises für seine Genialität die eine Antwort: Genie ist eine Dornenkrone. Daß keines der geistigen Denkmäler Wystan Hugh Auden als solches nicht ausgenommen demoliert wird, versteht sich bei Franz Richter von selbst. Ist ihm ja in Sternstunden schöpferischen Schaffens als Dichter und als Musizierender, wenn kontemplativ jeden Morgen er ,,fromm sich fügt der Schwingungszahl“ das Geniale Gast und Geist.
In seinem zum Refugium gewordenen Landhaus, das im semmeringnahen Voralpenbereich Niederösterreichs zwischen Waldland sich verborgen hält, darf er, dessen Nerven bei geringster Berührung mit falschen Tönen, mit Heuchelei und Geschmacklosigkeit, mit Anmaßung und Lüge zu vibrieren beginnen, sein unerschütterliches Wissen, wonach aller unser Anfang immer wieder auch bei uns sein Ende findet?, überprüfen. Viele durften Gefährten sein auf Franz Richters Wegstrecken und an ihre Zielpunkte gelangen. Sie schulden ihm, dessen Weg größer bemessen ist, Dank für sicheres Geleit.