Erika Mitterer

Literatur

Geheime Größe der österreichischen Literatur

Wäre sie eine französische Autorin oder gehörte sie gar dem angelsächsischen Sprachbereich an, dann wäre es vermutlich überflüssig, Erika Mitterer hier vorzustellen, zu begründen, warum wir sie verehren, lieben oder gar zu sagen, was sie uns bedeutet. In einem Staatswesen aber, in dem Kulturpolitik traditionsgemäß den Cliquen überantwortet bleibt und unter Menschen, die ihr Urteilen den beamteten oder selbsternannten Auguren von Literatur überlassen haben, ist es gar nicht so gewiss, dass Jüngere mit dem Namen der am 30. März 1906 in Wien geborenen Dichterin, die ihren Wohnsitz, halbjahresweise wie Persphone, seit 1942 zwischen dieser Stadt und einem Ort in Niederösterreich teilt, dass also diese Jüngeren mit ihrem Namen mehr verbinden werden als nur eine vage Vorstellung, allenfalls noch den einen oder anderen Titel eines ihrer Bücher.
So umfangreich ihr Lebenswerk auch ist, so hohe Auflagen ihr wichtigstes und gewichtigstes Buch, der Roman ,,Der Fürst der Welt“, auch erreicht hat: ihr Name wird von den Springfluten der Modeliteratur übertönt, überschrien. Und sie hat keine der Modetorheiten mitgemacht, schrieb nie Rilkescher als Rilke, zu einer Zeit, da dies zum Modediktat gehörte, verschrieb sich keinerlei Ismen, betrieb niemals irgendwelche Experimente, außer vielleichtjenem ,,experimentum crucis“, gerade im Gegenwind den eigenen Weg zu suchen.
Aber sie blieb sich in einem Ausmaß selbst treu, wie nur grolle, gefestigte, in sich selbst ruhende Charaktere, die den Flitter, den
Glamour des „Kulturbetriebes“ nicht nötig haben, sich selbst treu bleiben können. Sie ist den Weg zu den Wurzeln des Dichtens und des Denkens gegangen. Und das ist immer ein Weg der Wenigen. Ein Weg, der weg von den überfrachteten, den opulenten Tischen des Daseins führt, bis dahin, wo das Wort nur noch spröde, rissig klingt. Ihre Gedichte, selbst die einfacheren, sangbaren, haben etwas von der Alltagssprache an sich, ein Parlando, dass man einst als dissonant empfunden haben mag.
Nie hat sie sich das Dichten leichtgemacht, nie das Spiel mit der Sprache gespielt; was aus ihr sprach, war eine härtere Wirklichkeit: eine, die sie in den Lehrjahren als Sozialfürsorgerin kennengelernt hatte. Und dennoch münden ihre Gedichte nie in platte Sozialkritik. Zeit-, Gesellschafts-, Kulturkritikbleiben nur Vordergrund, dahinter aber wölbt sich groß und weit der Himmel beständigerer Wesenheiten. Mag manches aus ihren ersten beiden Gedichtbänden auch der neuen Sachlichkeit zuzuordnen sein, so zeigen sich schon in den Jahren vor dem zweiten Weltkrieg Streiflichter jener anderen, größeren Zusammenhänge des Seins, die hinter den Horizonten alles real Fassbaren wetterleuchten.
0bwohl von griechischer Geistigkeit stark gefangengenommen, hat sie diese eigentliche, höhere Wirklichkeit nie anthropomorph zu gestalten, nie in das gängige Ensemble vorfabrizierter religiöser Metaphern zu pressen gesucht. Als Realistin hält sie sich vielmehr an die beschreibbare Realität. Ihre Sprache wurzelt daher durchaus im vordergründig Sinnlichen, geht von der täglichen Erfahrung aus, gibt jedoch unversehens den Blick auf das Jenseits der Gedanken, Bilder, Worte und Sehnsüchte frei. Unwillkürlich stößt man sich hier an dem Satz wund, den Rilke ihr in der ,,Ersten Antwort für Erika Mitterer“ geschrieben hat: „Wirklichkeit ist wahr in ihrer Sphäre; schließlich schließt das ganz imaginäre alle Stufen der Verwandlung ein.“
Deutlicher lässt sich die analogia entis nicht ausdrücken, die Hierarchie des Alls, diese Stufenordnung des Seins, die durch alle Dinge, alle Erscheinungen, durch Elend, Not, Freude und Leid, das Entzücken und das Entsetzen hindurchgeht, sie umfasst, umgreift, durchdringt und in eins zusammenschließt. Das Umschlagen der Realität des Gedichts hin zu einer höheren Wirklichkeit, zumens realissimum, vollzieht sich bei Erika Mitterer nicht auf dem Papier, sondern gleichsam zwischen allen molekularen Bindungen, im feineren Äther des Erlebens, in der Psyche des Lesers. Ähnlich haben die Mystiker das zuhöchst Wirkliche erfahren: als ein in seiner Sinnlichkeit gesteigertes Dasein, das sich nicht in Worte fassen, nicht in Zeilen pressen lässt, sondern bestenfalls zwischen den Zeilen mitschwingt, uns aus den Zeilen entgegenspringt, zu dessen Erahnen Sprache allerdings entscheidende Anstöße geben kann.
Fast alle Gedichte der ersten Lebenshälfte lassen Spuren solcher panentheistischen Schau erkennen. Nach 1950 drängen die von konkreter, unmittelbarer religiöser Spiritualität geprägten Gedichte stärker in den Vordergrund. Nicht willkürlich ist es, den zweiten Weltkrieg, das Erlebnis des Wahnsinns aller Totalitarismen als Zäsur anzusehen. Schon die dreißiger Jahre sind mit Vorarbeiten für ihren großen historischen Roman „Der Fürst der Welt“ ausgefüllt. Immer drängen der ist in Erika Mitterer die Notwendigkeit
spürbar geworden, das Denken, die Gefühlswelt der Menschen im Zeitalter der Inquisition und des Hexenwahns näher zu erforschen. Das hat eine stärkere Auseinandersetzung mit den Lehren des Katholizismus, vor allem aber mit den Lehren Thomas von Aquins mit sich gebracht.
Diese Studien über eine Zeit des Umbruchs, des Verfalls, der Wende, die schon deutlich den Frühschein des Kommenden erkennen lässt, ist nicht nur den Figuren des Romans, deren vielfältiger Plastizität, Lebendigkeit und Wirklichkeitsnähe zugutegekommen, sondern auch der Geistigkeit von Erika Mitterer selbst. Für sie wird die Arbeit an diesem Roman zu einer Art Erweckungserlebnis, die ihre erst nach der Konfirmation ihrer Kinder vollzogene Konversion zur katholischen Lehre einleitet.
Immer wieder kann man die Behauptung hören, es habe während des Krieges keinen großen Roman der Resistance in Deutschland gegeben. Hier, mit Erika Mitterers gestaltenreichem und handlungsdichtem Prosäpos einer Zeitenwende, dessen Titel nicht zufällig auf Satan anspielt, ist ein Buch des Widerstandes, der Analyse von Gebrochenheit, Anfälligkeit und Verworfenheit der menschlichen Natur geschrieben worden. Es ist kein Buch bloß innerer Emigration vor den Auswüchsen, den Auswürfen der Macht, sondern eines, das, gestützt von einem starken Glauben, einem starken Willen, mutig gegen Ungeist, gegen die Unmenschlichkeit, gegen die Verrohung des Gewissens ankämpft. Und weil das zu Sagende damals, in einer Zeit der Unterdrückung Andersdenkender, anders nicht ausgedrückt werden konnte, schlug Erika Mitterer den großen Bogen von den Perversionen, den Greueln der Macht des
Hitler-Regimes zu den Missbildungen und Auswüchsen irregeleiteter geistlicher Macht im ausgehenden fünfzehnten und beginnenden sechzehnten Jahrhundert.
Nach all dem hier nur kurz Skizzierten mag es dennoch deutlich geworden sein, wie falsch es wäre, Erika Mitterer als weltfremde Mystikerin abzutun. Immer wieder hat sie ja versucht, sich über die Zeit, die Geschichte ebenso Rechenschaft abzulegen wie über den Zustand unserer Gesellschaft. Auch das ist ein Kennzeichen ihrer späten Lyrik, die nur mehr andeutet, weit mehr noch verschweigt. Sie hat mit den Dogmen der katholischen Kirche ernst gemacht, hat mit ihnen zu leben versucht und in ihnen den Halt gefunden, den unruhige Herzen eben nur in der Gewissheit des ordnenden Geistes zu finden vermögen.
Aber sie hat auch ihre Nächstenliebe insofern auf eine harte Probe gestellt, als sie in ihrem bisher letzten Roman ,,Alle unsere Spiele“ der Genese des Rassenwahnsinns unseres Jahrhunderts näherzukommen suchte. Ganz im Stile großer Dichtung rollt hier kein Tribunal ab, bei dem die Rollen bereits verteilt, Gut und Böse von vornherein festgelegt sind. Erika Mitterer gelingt es vielmehr, das urchristliche Gebot der Feindesliebe mit einer solchen Intensität in die Tat umzusetzen, dass daraus ein echter Zusammenprall der Weltanschauungen folgt und nicht bloß das Geraschel eines Papiertigers.
Den Gegener ganz einfach umzubringen kommt einem Rückfall auf animistische Stufen des Seelenlebens gleich; seine geistigen Grundlagen zu verstehen, sich mit ihm auf der Basis des Verstehens auseinanderzusetzen, erst dadurch vermögen die eigenen Fehler wie auch die Fehler der anderen sichtbar gemacht zu werden. Der Zirkel der Gewalt kann nur dadurch durchbrochen werden, dass man den Gegner ernst und das heißt hier: beim Wort nimmt. Im Ausmorden, im Wortlosmachen des anderen, sind Reste rituellen Verspeisens der Gehirne von Gegnern einprogrammiert und damit so viel wie der eigene Tod. Erinnert das nicht an das ,,Gespräch der Feinde“, das unser unvergessener großer Freund und Lehrer Friedrich Heer so beständig gesucht und herausgefordert hat?
Wir ehren in der praktizierenden Katholikin den bekennenden Mut, die außerordentliche Kraft des Glaubens und verehren sie als eine der imaginationskräftigsten Dichterinnen unseres Landes seit Marie von Ebner-Eschenbach. Vor allem aber danken wir ihr dafür, dass sie uns auch noch in vorgerückten Jahren die streitbare Lust am Bekunden des als richtig erkannten Wegs oft sehr drastisch vor Augen geführt hat. Wer in dieser dem Anarchismus zuneigenden Spätzeit den Mut aufbringt, gegen Hätschelfiguren der ,,Kunstszene“ wie Filmemacher zu protestieren, die ihre von der Gesellschaft garantierten Freiheiten dadurch überziehen, dass sie die ebenso garantierten Glaubensfreiheiten anderer verletzen, verdient Bewunderung schon deswegen, weil er der Geringschätzung derer gewärtig sein muss, die sich auf dem Trittbrett des Fortschritts wähnen.
Bewunderung verdient Erika Mitterer aber vor allem deswegen, weil sie für ihre Freiheit etwas riskiert hat: die Freundschaft ihrer Kolleginnen und Kollegen. Als nämlich damals der Schriftstellerverband und der P.E.N.-Club gemeinsam gegen das Verbot von Achternbuschs Film „Das Gespenstprotestierten, trat sie kurz entschlossen aus beiden Vereinigungen aus. Mit Recht galt ihr die Dokumentation der Freiheit ihres Glaubens mehr als der formale Protest gegen das Aufführungsverbot eines Films, dessen Wirkungskonzept im Grundmuster des Aufstörens und Reizens intimster Zonen menschlichen Selbstverständnisses bestand. Ihr Protest gegen diesen an sich nur formalen Protest hat sie als engagierte Kämpferin gegen den Terror der Anarchismen im heutigen „Kulturbetrieb“ ausgewiesen. Denn sie hat damit sinnfällig gemacht, dass jeder noch so berechtigte Kampf für die Freiheit des Worts vor der Freiheit des anderen enden muss.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 1992