EIn zusätzlicher Blick auf die Wirklichkeit
Wer im Rollstuhl sitzt, schaut der Wirklichkeit unter den Rock. Ein hoher Preis für eine Wirklichkeit, die viele nicht sehen wollen. Herr Groll erfährt die Welt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Herr Groll sitzt im Rollstuhl. An seinen Erfahrungen, den buchstäblichen und den übertragenen, beteiligt ist ein Dozent für die Soziologie von Randgruppen namens Tritt. Und was sie unter dem Rock der Wirklichkeit sehen müssen, ist oft erschreckend. Wie in ,,Giordanos Auftrag“, wo die beiden auf die Spur obszöner Pornoproduzenten und deren Praktiken kommen, die Erwin Riess mit schockierender Drastik beschreibt. In (fast) allen Prosatexten des Autors begegnet dem Leser dieses Paar, das in einer langen literarischen Tradition steht, die von Don Quijote und Sancho Pansa bis zum Nörgler und dem Optimisten aus den ,,Letzten Tagen der Menschheit“ reicht – und, wie es so schön heißt, diesen Vergleich auch nicht zu scheuen braucht. Groll neigt zum Monologisieren, ist anmaßend, beleidigend, er übertreibt, verzerrt, spottet; der Dozent – dieser kann einem manchmal leid tun – liefert die passenden Stichworte, widerspricht schüchtern, schweigt. Und doch sind sie Freunde, der Praktiker und der Theoretiker, einer weniger ohne den anderen. Weiß der Dozent doch, dass Grolls grimmige Sprachgewalt nur eine Art Selbstschutz ist in einer Welt, die für Rollstuhlfahrer wenig Verständnis aufbringt, eine Welt ohne Rampen und behindertengerechte Toiletten. Groll weiß, dass der Dozent das weiß. Auch Erwin Riess sitzt im Rollstuhl (seit 1983 – nach einem Rückenmarktumor). Und dennoch ist der Herr Groll mehr als nur dessen alter ego. Wie in jeder guten Literatur ist hier das Biographische verdichtet und ins Allgemeingültige erhoben. Der Blick auf den Autor versperrt oft den Blick auf die Literatur. Erwin Riess schreibt keine Literatur für Behinderte. Sein Blickwinkel, jener des Rollstuhlfahrers, ist ein Blickwinkel mehr, ein‘ zusätzlicher, ein ergänzender, wie er in der Literatur der Gehenden nicht vorkommt. Trotzdem schreibt Erwin Riess auch für und über behinderte Menschen, aber in Essays und wissenschaftlichen Studien. Zehn Jahre lang war er Referent des Wirtschaftsministeriums für behindertengerechtes Bauen, bevor er sich entschloss, das Risiko einer Schriftstellerexistenz einzugehen. Gut für die österreichische Gegenwartsliteratur! Neben den sehr dialogisch geprägten Prosatexten schreibt Erwin Riess Theaterstücke, Filmdrehbücher (,,Giordanos Auftrag“ und – in Arbeit – „Der Liebe Augustin“), Hörspiele, Artikel und Essays zu kulturpolitischen und literarischen Themen. Er war Writer in Residence an der NYU/New York und am Gate Theatre in London und Gastprofessor für Integrationspädagogik in Klagenfurt. „Wer im Rollstuhl sitzt, schaut der Sprache unter den Rock. Sprachfehler sind Denkfehler.“ Erwin Riess‘ Sprache ist klar, präzise, ohne Schnörksel, ohne assoziative Beliebigkeiten, sie ist kurzum: richtig, weil das Denken dahinter klar und analytisch ist, unbestechlich. Riess lässt seinen Herrn Groll stets auch das Gegenteil denken, das Außer-Acht-Gelassene, das Provokante. Lagerhaustürme, die eine Landschaft verschandeln, machen auch das Zerstörte, die Landschaft, sichtbar. Und wenn Groll für die Beibehaltung der Silos plädiert, zwingt er- nein, verleitet er – den Dozenten und die Leser zu jener Opposition, die er beabsichtigt. In seinem Denken schlägt Groll Haken, der Dozent hinkt oft mühsam hinterher. Wenn Groll von Hochkultur
spricht, kann es auch sein, daß er Weinstöcke meint, die in Hochkultur gezogen werden; von seinem Rollstuhlfabrikat behauptet er, es sei im Vietnamkrieg erprobt worden. Kann das stimmen? Was ist wahr, was erfunden? Egal, schon den Unterschied nichtherausfinden zu können ist entlarvend genug. Wer im Rollstuhl sitzt, schaut der Geschichte unter den Rock. Kaum ein österreichischer Dramatiker setzt sich der Mühe aus, sich mit historischen Stoffen zu beschäftigen. Erwin Riess tut es. Sei es in den ,,Kuruzzen“, in ,,Messenhauser oder Bomben aufVenedig“, in ,,Herr Grillparzer fasst sich ein Herz und fährt mit einem Donaudampfer ans Schwarze Meer“ oder in seinem neuesten, vor kurzem mit grossem Erfolg am Bregenzer Kosmos-Theater uraufgeführten Text ,,Krupp oder Auf der Höhe der Zeit“. Allesamt Stücke, die radikale Theatermacher altmodisch nennen würden, die aber moderner, spannender sind als die gängigen Blut- und Spermastücke oder die noch gängigeren Collagestücke, wo erst ein Stück zertrümmert und dann bis zur Unkenntlichkeit neu zusammengesetzt wird. Wer im Rollstuhl sitzt, schaut der Liebe unter den Rock. Erwin Riess ist ein Liebender. Seine Polemik gegen Zustände und gegen die für diese Zustände Verantwortlichen ist gleichzeitig ein Eintreten für die Opfer dieser Zustände. Nicht nur für behinderte Menschen, sondern für viele, deren Stimmen im Gewirr und Geschwätz einer globalisierten Welt untergehen. Und Erwin Riess liebt die Donau, das Beobachten der Schiffe, das Mit-Ihnen-Ziehen in fremde Länder. Seine Lieblingsplätze liegen an diesem europäischen Strom, der teilt und verbindet, Orte und Zeiten. In vielen seiner Texten ist die Donau viel mehr als Lokalkolorit. Wer im Rollstuhl sitzt, schaut der Wirklichkeit unter den Rock und wird dafür geliebt. Nicht von allen – vermutlich. Aber von vielen. Von Lesern und von Kollegen wie Michäl Scharang, Peter Turrini oder Elfriede Jelinek. Und von mir. Was meiner Objektivität schadet, ich weiß. Aber das kümmert mich nicht im geringsten.