Krankheit, Liebe, Dichtung
Im Jahr 1993 veröffentlichte Evelyn Schlag ein schönes Buch mit dem ungewöhnlichen Titel ,,Keiner fragt mich je, wozu ich diese Krankheit denn brauche“. Der Band, verfasst von einer Autorin, die im Kranksein erfahren ist und in der Literatur ihre Worte behutsam und bewusst zu setzen pflegt, vereint ein paar Vorlesungen zur Literatur, in denen Evelyn Schlag sich auch an den Entwurf einer eigenen Poetik wagt. Fern der romantischen Verklärung wird die Krankheit in diesen Vorlesungen doch keineswegs als dumpfer Schicksalsschlag, als ungerecht über dem einzelnen verhängten Urteil begriffen, sondern als eine „umstürzlerische Kraft“ gerühmt, „die in uns allen wohnt.“ Daran ist zweierlei bemerkenswert: dass die Krankheit, gemeinhin als Verlust von Stärke und Sicherheit, ja als Zustand der Schwäche oder Prozess des Schwindens erlebt, als eine „Kraft“ erscheint; und dass dieser Kraft umstürzlerische Eigenschaften zugesprochen werden; die sich ein jeder von uns zunutze machen kann, weil ja in jedem immer wieder oder gar chronisch auch Krankheit ist. Freilich wirkt in Schlags Verständnis von Krankheit eine unausgesprochene, doch unabweisliche Prämisse, die nämlich, dass wir alle, eingezwängt zwischen Verpflichtungen und Konventionen und fest auf die Geleise der Gewohnheit gestellt, umstürzlerischer Kräfte dringlich bedürfen.
Einen Menschen existentiell so im Innersten zu berühren, dass er sein Leben auf den Prüfstand stellt und es gegebenenfalls als falsches, in die Irre führendes erkennt und ändert, diese umstürzlerische Kraft hat die Krankheit, so wie Schlag den Menschen sieht und die Kunst versteht, mit der Liebe und der Dichtung gemein. Krankheit, Liebe, Dichtung – sie vor allem vermögen uns so stark zu erschüttern, dass wir in der genormten Wahrnehmung der Dinge, auch unserer ureigenen, aufschrecken und der Routine bewusstwerden, in der das Leben uns entgleitet. Man sieht schon, Literatur ist für Evelyn Schlag kein postmodernes oder sonstig schnell veraltendes Spiel mit Formen, Themen, Traditionen, auch kein virtuoser Leerlauf in artifizieller Selbstgenügsamkeit, sondern eine existentielle Notwendigkeit. Wer mit sich und der Welt in ewiger Grabesharmonie ruht, mag getrost fragen: umstürzlerische Kraft, wozu sollte derlei vonnöten sein? Und darauf lässt sich ja auch tatsächlich nichts erwidern, denn wer damit zufrieden ist, dass nur alles hübsch bleibe, wie es ist, im Kleinen und im Großen, der ist für die Literatur ohnehin unerreichbar verloren, er wird sie nicht lesen, nicht verstehen und ganz zurecht meinen, dass er besser ohne sie auskomme. Die anderen aber, die sich nicht abfinden können und nicht zurückstecken wollen, die den Stachel der Unzufriedenheit kennen und die Sehnsucht nach Fülle, werden zur Literatur finden, und die Lyrikerin und Erzählerin Evelyn Schlag, auf die sie dabei in bald zehn Büchern treffen können, ist ihnen eine getreue Chronistin von Schmerz und Sehnsucht, die zu verunsichern, aber auch zu ermutigen, zu irritieren, aber auch zu trösten weiß. Denn wiewohl in ihren Erzählungen und Gedichten Krankheit, Trennung, Liebesschmerz keine geringe Rolle spielen, paradiert diese Autorin nie in eitlen Düsternissen; kennt sie auch die Verzweiflung, möchte sie doch ihren Mantel der Hoffnungslosigkeit nicht gleich über die ganze Welt gebreitet sehen. Manches ihrer Gedichte, wie sie in den Bänden „Einflüsterung nahe seinem Ohr“, ,,Ortswechsel des Herzens“ und ,,Der Schnabelberg“ mit wachsender Meisterschaft vorliegen, ist bitter, aber keines verbittert; und wenn es in ihren Erzählungen, in denen der Tod vom Erstling „Nachhilfe“, über ,,Beim Hüter des Schattens“, ,,Brandstetters Reise“ und ,,Die Kränkung“ bis zur jüngsten Sammlung „Touche“ stets als vertrauter Gast hereinschaut, vieles zu klagen, auch anzuklagen gibt, so sind diese doch frei von Häme. Evelyn Schlag kennt als Autorin die Häme nicht, ist über jener infantilen, mitjahrelangen Enttäuschung gut genährten Hass hinaus, der in der österreichischen Literatur so wild wie ziellos um sich schlägt, zum Gaudium des Publikums, das gerne ein wenig Theaterblut spritzen sieht.
Evelyn Schlag, in Waidhofen an der Ybbs geboren und lesend wie schreibend mit der Welt verbunden, in einem geistigen Austausch über die Grenzen von Sprache und Epoche hinweg, der vom Schottland des Douglas Dunn ins Amerika von William Carlos Williams oder Raymund Carver und ins Davoser Krankenzimmer der Neuseeländerin Katharine Mansfield reicht, Evelyn Schlag kennt die Provinz aus eigenem Erleben und die Welt aus subjektivem Erlesen. Sie kennt die Provinz und weiß, was in ihr würgende Enge ist und was in ihr an schöpferischer Revolte keimt; sie kennt die Welt und weiß, welche Freiheiten sie ermöglicht und wie hinterwäldlerisch sie gerade in den Metropolen des Zeitgeistes sein kann. In ihrer Literatur sind spezifisch österreichische Züge unverkennbar – und Momente unübersehbar, die sie sich aus der internationalen Literatur angeeignet hat. Beides, Waidhofen und die Welt, begegnet sich in einem Werk, das still, fast unauffällig wächst; man sollte, bloß weil Evelyn Schlag eine zurückhaltende Autorin ist, die nicht dauernd öffentliches Aufhebens von sich macht oder regelmäßig bei den Auftrieben des Literaturbetriebes zugegen wäre, nicht übersehen, dass die Widersetzlichkeit das geheime Zentrum dieses Werkes bildet und als umstürzlerische Kraft noch im knappsten Gedicht wirksam ist.