Große Oper aus dem Dunkelsteiner Wald
Maria Langegg, das kleine Dorf im Dunkelsteiner Wald, hat neben seiner Bedeutung als Wallfahrtsort auch einen ganz besonderen Stellenwert innerhalb des niederösterreichischen Musiklebens. Hier hat sich im Jahr 1963 Friedrich Cerha niedergelassen, auf der Suche nach einer ruhigen Zuflucht im hektischen Jahresablauf eines international beschäftigten Dirigenten, nach einem abgeschiedenen Refugium, das ihm Ruhe und Anregung zum Komponieren verhieße. Er hat es in Maria Langegg gefunden, praktisch alle seine Werke aus den letzten 20 Jahren sind hier entstanden. Friedrich Cerha kam am 17. Februar 1926 in Wien zur Welt. Sein geistiges Rüstzeug verdankt er der Wiener Musikakademie und der Wiener Universität, er ist ausgebildeter Komponist, Geiger, Musikerzieher, Germanist und Musikwissenschafter (Dr. phil.). Seine gediegene kompositorische Schulung bei Alfred Uhl ergänzte er durch einjährige Stipendien in Rom und Berlin. Das damals äußerst schwache Angebot an zeitgenössischer Musik im österreichischen Musikleben veranlaßte Cerha im Verein mit Kurt Schwertsik 1958 zur Gründung des Ensembles ,,die reihe“, das sich unter seiner Leitung konsequent dieser Musik widmete und bald internationale Bedeutung gewann. Cerhas fanatischem Drang zur Perfektion, seiner eminenten, mit genauester Werkkenntnis gepaarten Vorstellungskraft und nicht zuletzt auch seinem gesteigerten Klangsinn sind exemplarische Aufführungen vor allem der grundlegenden Werke der Wiener Schule zu verdanken. Als Experte für die Musik des 20. Jahrhunderts wurde Cerha immer häufiger als Gastdirigent ausländischer Orchester und Opernhäuser eingeladen, und so wurden auch zahlreiche internationale Festivals, unter ihnen Warschauer Herbst, Biennale Zagreb, Salzburger Festspiele, Prager Frühling, Wiener und Berliner Festwochen usw., zu Stationen seiner Dirigentenlaufbahn. Diese Tätigkeit mußte Cerha, inzwischen auch Professor und Leiter einer Kompositionsklasse an der Wiener Musikhochschule, allerdings stark einschränken, um genügend Zeit zum Komponieren zu finden. Betrachtet man Cerhas Werkskatalog, so ist eine Entwicklung von der Instrumentalmusik zum Musiktheater nicht zu übersehen. Seine frühen Kompositionen, darunter Deux eclats en reflexion“ und ,,Formation et solution“ für Violine und Klavier und das für seine Frau geschriebene, besonders beeindruckende Cembalokonzert ,,Relazioni fragili“ spiegeln die Auseinandersetzung mit der Wiener Schule, vor allem mit Webern und den von ihm abgeleiteten seriellen Techniken, wider. Bald sind größere Besetzungen und Formen zu beobachten, die schließlich in dem gigantischen Orchesterzyklus ,,Spiegel I bis VII“ gipfeln, der nicht nur in seiner riesigen Orchesterbesetzung und der Gesamtdauer von 85 Minuten, sondern vielmehr noch durch sein von statischer Ruhe, reich differenzierter Dynamik, sensibelster Klangdisposition und ekstatischer Kraftentfaltung gespeistes Spannungsfeld an die Grenzen der Orchestermusik vorstößt. Die Arbeit an ,,Spiegel“ erstreckte sich über 12 Jahre, die erste Gesamtaufführung erfuhr der Zyklus 1972 im Grazer Opernhaus anläßlich des Weltmusikfestes der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik (IGNM). Nach einer Reihe von Kompositionen für großes Orchester und Kammerorchester 2 Langegger Nachtmusiken“, Exercises, Curriculum (Auftrag der Kussewitzky-Stiftung), 2 Doppelkonzerten usw. folgte 1981 das Bühnenopus „Netzwerk“ in einer Aufführung der Wiener Festwochen im Theater an der Wien. So wie bei ,,Spiegel“ hatten auch hier optische Vorstellungen bei der Konzeption schon eine gewisse Rolle gespielt, theatralische Ideen traten nach des Komponisten eigener Aussage erst später hinzu. Zentrales Anliegen aller musikdramatischen Werke Cerhas ist das Spannungsverhältnis zwischen der menschlichen Gesellschaft und dem einzelnen Individuum. Es ist sicher kein Zufall, daß jenes Werk, mit dem er endgültig seinen weltweiten Durchbruch erreichte, eben diesen Konflikt zum Thema hat: Alban Bergs Oper „Lulu“. Berg hatte den dritten Akt des Dramas wohl weitestgehend konzipiert, die Instrumentation aber nicht mehr vollenden können. Bei allen Aufführungen mußte daher bisher der 3. Akt weggelassen werden. Cerha stellte fest, daß Bergs Skizzen soweit gediehen waren, daß eine Fertigstellung der Oper ohne Eingriff in die musikalische Substanz möglich wäre. Er vollendete die Orchestrierung, geleitet von größtem Verantwortungsbewußtsein und unanfechtbarer Kompetenz. Die Pariser Uraufführung der nunmehr dreiaktigen Lulu“ brachte Cerha internationale Anerkennung, das Stück hat in dieser Fassung seither auf vielen Bühnen der Welt Fuß gefaßt. Die Früchte dieser Arbeit, die durch sie bedingte intensive Auseinandersetzung mit Alban Berg konnte Cerha schließlich in seine erste eigene Oper „Baal“ einbringen, die 1981 bei den Salzburger Festspielen mit außerordentlichem Erfolg uraufgeführt wurde. Der von Bert Brecht geschilderte Konflikt des Außenseiters Baal mit der Gesellschaft hat durch Cerhas überhöhende Musik eine glaubhafte, spannungsgeladene Darstellung erfahren. Die Salzburger Aufführung wurde von der Wiener Staatsoper übernommen, mehrere große Opernhäuser haben das Werk in den wenigen vergangenen Jahren in eigenen Einstudierungen herausgebracht und damit seine Qualitäten bestätigt. Inzwischen schreitet Friedrich Cerha auf dem eingeschlagenen Weg weiter. Eine neue Oper, „Der Rattenfänger“, ist im Dunkelsteiner Wald im Entstehen begriffen. Wir wünschen dem Komponisten und uns, daß noch viele weitere Meisterwerke aus diesem verborgenen Winkel Niederösterreichs hervorgehen mögen!