Pionier und Motor der kritischen lokalen Zeitgeschichtsforschung
Friedrich Polleroß ist seit mehr als vier Jahrzehnten eine fixe Größe in der zeithistorischen Regionalforschung Niederösterreichs. Der aus der 238-Seelen-Gemeinde Neupölla (2019) stammende und in Wien wohnende Waldviertler hat an der Universität Wien Geschichte und Kunstgeschichte studiert und 1986 mit einer kunsthistorischen Dissertation promoviert. Seitdem ist er am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien beschäftigt.
Friedrich Polleroß gehört zu den Pionierinnen und Pionieren der kritischen zeithistorischen Lokalforschung, die seit den 1970er-Jahren der oft affirmativ-lokalpatriotischen Heimatforschung gegenübersteht und auf deren blinde Flecken und methodische Defizite hinweist. Bereits 1979, sieben Jahre vor der „Waldheim-Debatte“, initiierte und gestaltete er als Student in Neupölla eine zeithistorische Ausstellung und machte erstmals öffentlich auf das Schicksal der vertriebenen jüdischen Familie Biegler aufmerksam. Die frisch gekürte Ordinaria für Zeitgeschichte Erika Weinzierl und die aufstrebenden Universitätslehrenden Hanns Haas und Karl Stuhlpfarrer besuchten die Schau und nahmen an Diskussionsveranstaltungen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen teil.
1983 folgte der nächste Tabubruch: Polleroß veröffentlichte sein Buch „100 Jahre Antisemitismus im Waldviertel“ und legte damit eine der ersten regionalhistorischen Arbeiten über die lange Tradition der Judenfeindlichkeit vor. 1988 kuratierte er in Neupölla eine Ausstellung zur Geschichte des Waldviertels in der NS-Zeit. Wenige Tage vor dem Nationalfeiertag und dem „Gefallenengedenken“ zu Allerseelen sorgte er im Kino Allentsteig mit einer scharfzüngigen Rede „‚Heldenplatz‘ Döllersheim“ für Aufsehen, in der er „den schlampigen, ja verlogenen Umgang offizieller Stellen der Republik und des Bundesheeres mit der Vergangenheit“ (Friedel Moll) anprangerte.
Die thematische Vielfalt von Polleroß’ zeithistorischem Œuvre ist beeindruckend: Kinogeschichte steht neben Handwerks- und Ortsgeschichte, die Geschichte der Motorisierung neben jener von Elektrizität und Wasserkraft. Zu seinem Leibthema wurde die Erforschung des Lebens der jüdischen Bevölkerung im Waldviertel. 1996 brachte er den Sammelband „‚Die Erinnerung tut zu weh.‘ Jüdisches Leben und Antisemitismus im Waldviertel“ heraus, 2018 folgte das monumentale Werk „Jüdische Familien im Waldviertel und ihr Schicksal“. Auf 700 Seiten und mit rund 600 Abbildungen erforschen er und 15 Autorinnen und Autoren die Biographien jüdischer Familien in einem Umfeld, das zu den Hochburgen des Nationalsozialismus in Niederösterreich zählte. Einen großen Teil des Buches steuerte er selbst bei.
Sein akribisch recherchierter und profunder Längsschnitt über das Leben der jüdischen Gemeindebürgerinnen und -bürger in Neupölla vom 17. Jahrhundert bis zur Vertreibung und Ermordung in der NS-Zeit bezieht die regionale Erinnerungsgeschichte mit ein und fragt nach den Beziehungen zwischen Jüdinnen und Juden und Nichtjüdinnen und Nichtjuden im Ort – zweifelsohne ein Desiderat der Forschung.
Der Geehrte legt großen Wert auf Vermittlung. Schon früh nutzte er den Dokumentarfilm, um regionalhistorische Forschungsergebnisse einem breiten Publikum zugänglich zu machen. 1993, kurz nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, brachte er gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus der Tschechischen Republik und Österreich den „Kulturführer Waldviertel – Weinviertel – Südmähren“ heraus. 1997 eröffnete Landeshauptmann Erwin Pröll in Neupölla das „Erste Österreichische Museum für Alltagsgeschichte“, das von Friedrich Polleroß initiiert und gestaltet wurde. Mit den dort präsentierten Sonderausstellungen, Diskussionsveranstaltungen und Vorträgen erlangte die kleine Gemeinde am Rande des Truppenübungsplatzes überregionalen Bekanntheitsgrad. 2018 ehrte sie ihren großen Sohn mit der Ehrenbürgerschaft.
Polleroß’ Verdienst um die regionale Zeitgeschichte liegt nicht zuletzt in seinem Talent als Netzwerker. Stets um Dialog bemüht, brachte und bringt er immer wieder Universitätswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler mit Heimatforscherinnen und Heimatforschern sowie interessierten Laien ins Gespräch – gerade im Feld der Zeitgeschichte ein forderndes, aber lohnendes Unterfangen.