Ästhetik auf Augenhöhe
„… Euch kann man nach China, Tibet, Kalkutta, Somalia oder Kosovo schicken, ihr werdet dort jeweils von selbst jene Aufgaben, jene Projekte finden, die global und lokal die wirklich dringlichen, mit äußerster Intelligenz und Empathie zu bearbeitenden Problem- und Therapiefelder darstellen und die Leute und Mittel dazu“
so Otto Kapfinger zu Ulrike Schartner.
Diese Haltung gegenüber Bauaufgaben und künftigen Nutzerinnen und Nutzer sowie die integrativen Methoden und Prozesse der Umsetzung verwirklichen Ulrike Schartner und Alex Hagner auch in Niederösterreich in Umbau- und Sanierungsprojekten. Indem sie Bestehendes neu interpretieren, zeigen sie eine wertschätzende und respektvolle Haltung – nicht nur gegenüber Menschen, sondern auch gegenüber der Umwelt und der Dimension der Zeit. Besonders deutlich wird dies in einem ihrer jüngsten Projekte: der „Vinzirast am Land“. Hier wurde unter anderem ein Hühnerstall errichtet, als Teil des wachsenden Wohn- und Arbeitsprojekts für obdachlose Menschen.
Wie wichtig ist Formales in eurer Architektur?
Ulrike Schartner:
„Gar nicht! Das Wichtigste ist der Inhalt, der sich dann nach außen abdrückt.“
Alex Hagner:
„Extrem! Architektur muss schön, sogar sexy sein – das war Teil unserer Ausbildung. Uns reicht es aber nicht, wenn sie nur formalen Ansprüchen genügt. Wir gestalten nicht nur tote Materie, sondern das Leben, das darin stattfindet. Das Thema Obdachlosigkeit ist etwas, wo auf Distanz gegangen wird. Wenn unsere Architektur formal höchsten Ansprüchen genügt, tritt das Thema vielleicht in den Hintergrund.“
Ein Hühnerstall ist normalerweise keine Architekturaufgabe – warum nicht einfach Zimmerer beschäftigen und warum Altmaterial?
„Ein Freund hatte eine Scheune übrig. In der Vinzirast am Land benötigten wir Hühner als Teil des Permakultur-Konzepts – nicht für Eier oder Fleisch, sondern als Mistlieferanten für Dünger. Also nutzten wir das stallfähige Gebäude. Zuerst schauen wir, was da ist, und dann gestalten wir die Architektur als Prozess. Schülerinnen und Schüler der HTL Mödling bauten das Holzhaus ab und wieder auf. Materieller Mangel führt zu Kreislaufwirtschaft, ressourcenschonender Materialwahl und Arbeit mit dem Bestand. Die beste Architektur ist die, die erst gar nicht gebaut wird.“
Warum arbeitet ihr mit Schülerinnen und Schüler – ist das Teil eures Beitrags zur Bildung?
„Die Idee war, mit der Nachbarschaft zu ‚schaffen‘. Wenn Schülerinnen und Schüler mit obdachlosen Menschen zusammenarbeiten, haben sie ein Leben lang einen anderen Zugang zu diesem Thema. Fachlich profitieren sie ebenfalls: Konstruktionen zerlegen und wieder zusammenbauen lehrt mehr als Neubau – super Learning. So vermitteln wir technisches und soziales Wissen zugleich.“
Ist das Involvieren der Umgebung Teil eures Konzepts, um Widerstand frühzeitig aufzuheben?
„Unsere Projekte verstehen wir als Kampfansage gegen die Marginalisierung von Randgruppen. Je früher man Nachbarschaften in den Architekturprozess einbindet, desto eher entsteht Akzeptanz und Interesse.“
Warum werdet ihr ausgezeichnet?
„Unsere Arbeit – ‚Vinzirast Mittendrin‘, ‚Vinzidorf Wien‘, ‚Vinzirast am Land‘ – zeigt das Ergebnis einer Haltung, nicht vordergründig die architektonische Lösung einer Aufgabenstellung. Architektur kann helfen, wenn Menschen kein Zuhause haben. Wir setzen Ressourcen nicht für Wettbewerbe ein, sondern für soziale Projekte. Das Ergebnis ist meist anders als geplant – und das macht uns Spaß.
Architektur sollte als Prozess verstanden werden, bildhauerisch gedacht:
Anknüpfungspunkte im Projekt bewusst installieren.
Symbiotisch entwerfen, nicht als Parasit, der Platz nimmt oder Ressourcen verbraucht.
Bestand nutzen und Partizipation auf Augenhöhe fördern: Wenn Architekt, HTL-Schülerin oder HTL-Schüler und Bewohnerin oder Bewohner gemeinsam das Dach decken, spielt es keine Rolle, wer Pläne lesen kann. Drei Menschen decken das Dach ab.
So dringen wir mit professionellem Wissen in Systeme ein, die Sinn stiften. Mit schöner Architektur können wir Brücken bauen – von materiellem Überfluss zu materiellem Bedarf.“