Das jeweils Nächste
«Ich entlehne Dinge aus der Welt, die ich an mir und anderen beobachte», sagte Gerhard Ruiss anlässlich eines Gesprächs, das wir im Rahmen seiner Ernennung zum Würdigungspreisträger für Literatur führten. Es war ein schönes und intensives Gespräch, und nicht nur dieser Satz und seine Bedeutung, seine Konzentration auf das Wesentliche und Essenzielle der Kunst, blieben mir nachhaltig in Erinnerung. Es blieb eine ganze Geschichte, bewegend, geprägt von der Lust und der Herausforderung, im persönlichen wie im künstlerischen Schaffen fortwährend Neues zu entdecken, zu erfahren und hinter die Dinge und in die Welt zu blicken. Früh, so erzählte er, begann seine Faszination an Geschichten, an Gedichten und Bilderbuchreimen vor allem, früh begann er davon inspiriert, selbst Reime und Geschichten zu schreiben. Es war die Lust am Gestalten und der Wunsch, sich eine eigene Welt und ein Gegenüber zu erschaffen, nie mit dem Ziel, Schriftsteller zu werden, jedoch immer mit jenem, Dinge in Erfahrung zu bringen, von denen man nichts weiß, noch nicht, sich die Welt beizubringen. Das Wissen über die Welt kam aus der Literatur, und aus der Notwendigkeit des Lesens – lesen und nicht mehr damit aufhören können, lesen und dadurch in bislang unbekannte Welten eintreten – entstand jene Neugierde, die sein künstlerisches Schaffen begleitet, jener innere Dialog, der bis heute anhält. In seiner Kunst, sei es die Literatur oder die Musik oder all die anderen abenteuerlichen Stationen, zu denen es ihn führte, ist auch der Dialog mit seiner persönlichen Geschichte sichtbar; seiner Herkunft, seiner Wanderschaft zwischen Land und Stadt. Das Land, Ziersdorf, habe ihn mental und elementar geprägt, sagte er. «Mit dieser Mentalität gehe ich herum, ich kenne die Stimmungen, ich trage sie in mir, und ich treffe sie wieder.» Wir, die wir seine Texte lesen, treffen auch auf diese Stimmungen, sind mit ihnen in Form von Sprache konfrontiert, in diesem Dialog, der seine Sprache ist, Sprache als Ort, der Ruiss’ Heimat Ziersdorf und seine Verbundenheit dazu mit dem Leben in der Stadt kommunizieren lässt. Sprache, so Ruiss, sei nach wie vor eine Herausforderung, und liest man in seinem Werk, spürt man, dass er sich gerne dieser Herausforderung stellt, diesem genauen Mittel, wie er sagt, des Erklärens und des Mitteilens. In seinen Werken ist Sprache im schönsten Sinne interpretierbar und zeichnet sich durch Vielschichtigkeit aus, immer auch durch einen klaren Ausdruck und ein Ziel, so scheint es, eines, das noch in künstlerischer Zukunft verborgen liegt.Sprache und Ausdruck werden mit jedem Werk weitergetrieben und weiterentwickelt, beachtlich vielschichtig und umfangreich. Lyrik, Prosa, Theaterwerke und Nachdichtungen finden sich in Gerhard Ruiss oftmals ausgezeichnetem und prämiertem Schaffen, beginnend 1980 mit einer ersten eigenständigen Publikation seiner Gedichte «Zahnfleisch-Grenzgänger». Weitere Gedichtbände folgten, unter anderem «dichter schreiben keine romane» und «Kanzlergedichte», und als Liedermacher und Nachdichter trat er in die Fußstapfen Oswald von Wolkensteins in einem dreibändigen Werk. «Herz, dein Verlangen, dich umfangen will gelernt sein», so kommuniziert dieses Zitat aus Ruiss’ Wolkenstein-Nachdichtung wieder mit der Persönlichkeit des Schriftstellers; Ruiss verlangt von sich und den anderen, verlangt Miteinander und Bewegung, Ruiss umfängt mit seiner Sprache, jener inneren Sprache des Persönlichen, der er in verschiedenen Kunstformen einen Ausdruck verleiht. Dichtung greift nach dem Leben, und Leben spielt sich fordernd in seiner Dichtkunst ab. Dichtkunst und Kunst sieht Gerhard Ruiss als ein mögliches Mittel, um in die Gesellschaft hineinzuwirken und der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Dass es das eine nicht ohne das andere gebe, sagt er, und dass für ihn diese gesellschaftliche Verpflichtung bestehe, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren, etwas für Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit zu tun, sei nicht delegierbar. Sein bemerkenswertes Engagement in diesem Sektor zeugt davon und ist Inspiration und Motivation, sich der Welt mit den eigenen Mitteln zu stellen und sie zu verändern.Mit Gerhard Ruiss, seiner Vielseitigkeit und seinem Engagement, ist mit dem Würdigungspreis ein Künstler ausgezeichnet, der sich dem Stillstand verweigert und neugierig und aufmerksam den Aufbruch in Neues lebt. «Nicht das gelebte Leben interessiert mich», sagte er mir, «es ist das nächste Lied, der nächste Text, alles, von dem ich noch nichts weiß: das jeweils Nächste.»