Der Traum vom eigenen Leben
Bei kaum einem anderen österreichischen Autor verläuft eine so scharfe Trennungslinie durch das literarische Werk wie bei Gernot Wolfgruber. Die Zäsur ist mit dem Jahr 1985 anzusetzen, in dem sein Roman ,,Die Nähe der Sonne“ erschien, die ,,unaufhaltsam loslaufende Aufzählung“ von Ereignissen und Gedankenbildern, ein Kaleidoskop von Bildern, die zusammenrücken, auseinanderfahren und wieder zusammenklicken, angesiedelt zwischen Thomas Bernhard und dem nouveau roman, wie ihn Michel Butor pflegte, ein innerer Monolog, der zugleich psychologische Analyse ist, Umwandlung, Ummünzung, Verwandlung, Frage nach dem Warum, nach der Genesis von Ereignissen, ein flirrendes Nebeneinander von Stimmen, brüllendem Bewusstsein, Licht, Farben, Flächen und Bewegungsschatten, Farbengeschrei, Menschen und schwelender Erotik, Todesangst und Hoffnung.
Vor diesem Roman liegen die Bücher ,,Auf freiem Fuß“ (1975), ,,Herrenjahre“ (1976 und 1977) und ,,Verlauf eines Sommers“ (1981), extrem exzentierende naturalistische Sequenzen, kritische Anmerkungen eines hoffnungslosen (und doch so nach Hoffnung dürstenden) Geschlechtes, überhitzte und wilde Thesen gegen alles Hergebrachte, gegen das ,,Herrenrecht“, gegen die mehr oder minder erzwungene Integration in eine Gesellschaft, die instinktiv abgelehnt wird. Der Roman ,,Auf freiem Fuß“ ist ein einziges Aufbäumen gegen die ,,Trottelarbeit“, die mitunter Lehrlingen und Hilfsarbeitern auferlegt wird. Jede Zeile ist wie ein Peitschenschlag ins Gesicht einer sich duckenden oder anmaßenden Bürgerlichkeit. Das Problem der Berufswahl am Rande der sozialen Peripherie, wo es im Grunde nichts zu wählen gibt, weil jeder Schulentlassene froh sein muss, überhaupt eine Lehrstelle zu finden, steht zu Beginn. „Interessen sind eine Sache, Beruf eine andere. „Simultan werden Pubertätsprobleme ätzend glossiert. Ein einziges ,,Gesetz“ wird anerkannt: kein Gefühl zu zeigen. Der Held des Romans geniert sich seiner ärmlichen Herkunft und ist zugleich stolz auf sie, ein krasser Außenseiter, der die Enge seiner Welt, die Stubenwelt mit Kastel, Abwasch und Kredenz, nicht mehr erträgt. Er rebelliert gegen die Familie, gegen den wirklichen und den nur vermeinten Zwang. Fast automatisch schlittert er dabei ins Kriminelle. Nicht ohne Rührung vermerkt man als Detail, dass er zunächst kleine Glücksbringer stiehlt.
Die rüden Einzelheiten, die bisweilen auch ans Obszöne streifen, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, wie es selbst in diesem Roman aber um den Traum vom eigenen Leben geht, ein Thema, das beherrschend in dem Roman ,,Herrenjahre“ hervortritt. Gleich am Anfang, mit der Charakteristik von Melzer, der Hauptfigur, wird der Grundakkord angeschlagen.
,,Er war in der Volksschule Durchschnitt gewesen und in der Hauptschule, hatte in keinem einzigen Fach unter den anderen hervorgestochen, seine Versetzung in die nächste Klasse war nie ernstlich gefährdet gewesen. Manchmal war er guter Durchschnitt gewesen, manchmal schlechter, aber immer Durchschnitt und seine Lehrzeit war auch eine gewöhnliche Lehrzeit gewesen. Eine Zeit, die man abschreibt. Kuschen, Dreckwegräumen, nichts richtigmachen, Jasagen. Alles schon wissen müssen. Nichts denken dürfen. Lernen: sich nicht betroffen zu fühlen, Gedanken folgenlos sein zu lassen. Nicht wehleidig sein dürfen, schon ein Mann sein müssen, Rotzbub sein. Ständig denken: nur noch soundso lang. Hoffnungen aufschieben, abschreiben.“
Das Leben fängt für Melzer erst nach der Arbeit an. ,,Der Beruf ist eine Oberfläche, darunter ist der Mensch.“ Wenn Melzer auf sein Fließband zugeht, kommt es ihm vor, ,,als gehe er immer mehr aus seinem Leben heraus, wie ein lebenslänglicher, der mit jedem Schritt auf dem Rundgang in einem Innenhof immer mehr aus dem Leben herausgeht und sich mit jeder Runde mehr in die ihn umgebenden Mauern sich hineindreht.“
Der Traum vom eigenen Leben erfüllt sich für Melzer nicht. Er wird von Umständen, Notwendigkeiten und Pflichten gelebt. Er heiratet, weil er heiraten ,,muss“, er schockiert seine junge Frau von der ersten Stunde an durch sein ruppig-ordinäres Benehmen. Zärtlichkeit, die ihn manchmal übermannt, kommt ihm gleich nachher vor ,,wie eine ganz beschissene Sentimentalität“.
Vieles, beispielsweise die Schilderung der Hochzeit, wird zur böse verzerrenden Karikatur. Als Melzers Frau nach der Geburt des dritten Kindes sich nicht mehr richtig erholt, muss sich Melzer auch um den kleinen Haushalt kümmern, schön langsam bekommt er vier Berufe zusammen: Fabrikbaraber, Häuslbauer, Hausfrau und Krankenschwester. Nichts bleibt ihm erspart, was immer er auch anfängt, verkehrt sich letztlich gegen ihn. Jede Veränderung ist dabei ,,wie ein Nur-ein-wenig-aus-dem-Gleichschritt kommen“.
Am Ende steht die Resignation: die erzwungene Einsicht Melzers, dass es auf sowas wie die Liebe bei ihm nicht mehr ankommt: ,,das ist vorbei, sagt er, tausend Rosen, sowas spielt für einen wie mich keine Rolle mehr. Weil eigentlich, sagt er, spiel ich ja selber keine Rolle mehr.“
Die ersten Romane Gernot Wolfgrubers waren, so polemisch sie auch sind, ,,Ordnungsrufe der Wirklichkeit“. Nicht abwegig scheint es, viele Elemente in diesen proletarischen Romanen als autobiographisch zu interpretieren: 1944 im Gmünd geboren, arbeitet Gernot Wolfgruber, ehe er sich dem Studium der Publizistik und Politikwissenschaft zuwenden und sich als freier Schriftsteller schließlich etablieren konnte, als Hilfsarbeiter. Inzwischen ist sein Roman ,,Niemandsland“ ins Russische übersetzt worden, nimmt ,,Verlauf eines Sommers“, in dem das Entsetzen über die Sprachlosigkeit zum Ausdruck kommt, einen zentralen Platz in der neueren österreichischen Literatur ein. Die bisher höchste Leistung Gernot Wolfgrubers stellt ,,Die Nähe der Sonne“ dar: ein Ehepaar ist bei einem Autounfall getötet worden. Wie der Sohn des Ehepaares, Stefan, auf den Tod seiner Eltern reagiert, ist der eigentliche Inhalt des Romans – verzahnt wird dies mit den Erinnerungen, Erwartungen Stefans. Es gibt keine Hilfe von außen, er fürchtet, verrückt zu werden, oder es schon zu sein, der Tod der Eltern katapultiert Stefan hinaus in eine leere, in einen Zustand der Erschöpfung, aber er muss sich selber ausschöpfen, bis auf den letzten Rest seiner Gefühle, seiner Komplexe, ein Schuldmechanismus in ihm beginnt zu arbeiten, kein Weg führt zurück ins Gestern: ,,Gestern. Wann war gestern. War das im selben Leben?“ Mit einem Satz wie diesem knüpft der radikale Revoluzzer Gernot Wolfgruber an die Tradition an. In großen Sätzen, hinter denen die Gesichter verfließen, wird das Innen nach Außen gestülpt: Schreien möchte er, sagt Stefan, ,,durchs Zimmer heulen“. Und er möchte, ,,dass sein Geheul eine der Posaunen von Jericho wäre, in das die anderen einstimmen, und die Apokalypse über die Erde fegte und alles zerschlüge. Er liegt ganz still.“
Wie hier die Pole zusammengefügt werden, wie beschrieben wird, wie die ,,Galaxie des Bewusstseins“ in einem Menschen zusammenstürzt, zählt zu den glanzvollsten Leistungen der neuen epischen Literatur. Wohin Gernot Wolfgrubers Weg noch führen wird, vermag man nicht vorauszusagen: mit jedem Wurf der Würfel „fängt alles von neuem an“.