Begegnung mit der Geschichte
Museen und Archive sind heutzutage längst nicht mehr nur Stätten des Bewahrens, was freilich schon viel ist, denkt man an die unermeßlichen Verluste dieses Jahrhunderts. Sie sind vor allem Orte der Begegnung mit der Welt von Menschen, die lange vor uns lebten, Orte des Begreifens, wie etwas aus einem zum anderen wird, von einer Generation zur anderen, Orte des Verstehens für Menschen, in fremden und doch wieder vertrauten Umständen, in Zeiten, die sich ändern, und die Menschen mit ihnen. Die Begegnung mit der Geschichte, das Begreifen der Distanz des Früheren und seiner wachsenden Nähe, wenn man sich um das Verstehen bemüht, das hat die Wiener Neustädter Historikerin Dr. Gertrud Buttlar immer wieder vermitteln können. Über 35 Jahre Arbeit für das Wiener Neustädter Museum, das Stadtarchiv und die Denkmalpflege der „Allzeit Getreuen“, eine stattliche Liste von Publikationen, von der für Fachkundige gedachten Publikation bis zu Büchern mit großer Reichweite wie der Stadtgeschichte haben den hervorragenden Ruf von Dr. Buttlar begründet, die mit dem Würdigungspreis des Franz Stangler-Gedächtnispreises 1995 ausgezeichnet wurde. Dr. Gertrud Buttlar wurde am 12. Juni 1934 in Neunkirchen geboren. Nach der Matura begann Gertrud Gerha rtl, so der Mädchenname der Neunkirchneri n, an der Universität Wien das Studium der Geschichte und der Germanistik. Schon bald zeigte sich das Interesse an der Landeskunde, was auch die Doktorarbeit über das Thema ,,Geschichte der Burg und Herrschaft Steyersberg“ belegt. Der Promotion 1957 folgte zwei Jahre später die Staatsprüfung aus Geschichte und ein Stipendiat am Österreichischen Kulturinstitut in Rom. Und das wahrscheinlich entscheidende Ereignis in der Laufbahn der Historikerin: Sie wurde eingeladen, sich um die Stelle eines Stadtarchivars und Kustos des Wiener Neustädter Stadtmuseums zu bewerben. Anfang Oktober 1959 in den Dienst der Stadtverwaltung aufgenommen, mußte sie zunächst einmal das Stadtarchiv in das ehemalige Peterskloster übersiedeln, eine Aufgabe, die ihr Jahrzehnte später noch einmal zufiel. Denn in den letzten Jahren ihrer Amtszeit fiel die neuerliche Übersiedlung des Stadtarchivs, diesmal von der Petersgasse in das entsprechend adaptierte, bisherige Museumsgebäude, und die Neuaufstellung der Museumsbestände im Kloster St. Peter an der Sperr und in einem anschließenden, trotz heutiger Formensprache optimal zum alten Haus passenden Zubau. Diese „Museumsrochade“, wie man in Wiener Neustadt den Standorttausch von Stadtmuseum und Archiv nannte, setzte einen starken Akzent am Ende einer Beamtenlaufbahn. Das neue Stadtmuseum am Rande der City, das die mittelalterliche Wehrmauer miteinbezieht, verrät viel von Buttlars Ehrgeiz, wissenschaftliche Ansprüche mit pädagogischen Zielen zu verbinden und historisches Geschehen mit seinen Hintergründen einem interessierten Publikum näherzubringen. Zwischen Buttlars Beginn und der Pensionierung lagen Ereignisse wie die legendäre NÖ Landesausstellung in Wiener Neustadt des Jahres 1966, bei der Buttlar die örtliche Leitung innehatte, und eine zweite, 1979 zum 700-Jahr-Jubiläum des Doms, bei der sie entscheidend mitarbeitete. Dazu kamen viele Sonderausstellungen des Stadtmuseums. Von 1977 bis 1987 war die Historikerin zudem Präsidentin des Verbandes Österreichischer Archivare. ]Hassarchäologen machen ihre Arbeit meist kostenlosals Dissertanten, als Musiker, die für ihr Ensemble neues Material suchen, die sorglos und fehlerhaft edierte Musikdrucke mit den Originalen vergleichen, die endlich wissen wollen, wie es den Schöpfern ihrer Werke erging. Peter Erhart hat auf eigene Faust, auf eigene Kosten in der Freizeit seines Tonkünstlerjobs die Arbeit zu einem niederösterreichischen Komponistenlexikon geleistet. Das Buch ist ein Blick aufdie niederösterreichische Musikgeschichte, wobei eben nicht der Blickwinkel Aufführungsorte, Auftraggeber oder ein spezielles Musikgenre gewählt wurde, sondern bei den Biographien begonnen wurde. Die drei großen Kapitel des Buchesallesamt aufsteigend chronologisch geordnet – sind ,,Komponisten in und aus Niederösterreich“ und „Die großen Meister in Niederösterreich“. Ein Anhang der benützten Literatur ist angefügt, zwar nicht jedem einzelnen zugeordnet, aber doch in jeder einzelnen nachgeprüften Tatsache nachvollziehbar. Das Buch reicht vom Benediktiner Wisigin Columban, der Anfang des 17. Jahrhunderts in Melk und Admont wirkte, es schließt als frühesten „Zuagrasten“ den gebürtigen Stuttgarter Paul Peuerl an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert ein und endet mit Wolfram Unger, dem 1983 verunglückten Komponisten aus Neunkirchen. Das heißt, noch lebende Komponisten oder Komponistinnenwurden ausgeschlossen. So schließt dasvon Bernhard Günther vom Mica herausgegebene Lexikon an das nun vorliegende Werk Peter Erharts an. Die einzigen beiden Kriterien für die Aufnahme in das Lexikon waren vorliegende Kompositionen und ein bereits abgeschlossenes Lebenswerk. Den einzigen Rat, den Peter Erhart von einem Musikwissenschaftler bekam, hat er gut beherzigt: ,,Glaube nichts.“ Und dieser Leitsatz ließ ihn im Fonds der Gesellschaft der Musikfreunde in Manuskripten recherchieren, inAdressbüchern und Totenbeschauprotokollen der StadtWien, in den Matrikelbüchern der niederösterreichischen Pfarrämter, in den Jahrbüchern der Musikausbildungsstätten, in Chroniken niederösterreichischer Städte und Festschriften niederösterreichischer Persönlichkeiten wie MM#%e $ Institutionen. Die Periodika ,,Der Waldviertler“, die ,,NÖ Kulturberichte“, Reisebücher für Niederösterreich, Heimatbücher und Monatsblätter hat er studiert. Forschungsreisen führten ihn zu bis zu sechs Pfarrämtern an einem Tag, in die Stifte und Schulämter, zur Einsicht in die Chroniken und zu anderen Originalmanuskripten. Er glaubte auch renommierten Musiklexika nicht, wie dem Wurzbach, er konnte oft wiederholte falsche Daten widerlegen und unvollständige ergänzen. Das Buch ist ein Lesekompendium für Spaziergänger in Niederösterreich geworden, die auf der Perchtoldsdorfer Heide Franz Schmidts und Hugo Wolfs Wegen nachgehen, sie können in Krems den Geburtsort von Franz Liszts Mutter kennenlernen, in der Badener Pfarrkirche sich den jungen Mendelssohn spielend vorstellen oder Richard Wagner bei den ungarischen Gönnern aufderen Landsitz in Schwarzau am Steinfeld. Suppes Villa in Gars, in seinem liebsten Ort der Welt, ist noch zu sehen, Schönbergs Haus in Mödling eben renoviert. Jeder Leser kann in seinem Heimatort musikalische Spuren verfolgen – die Radlbrunner ihren Organisten Radl, die Gutensteiner ihren Gemeindearzt, Insektenforscher und Freizeitkomponisten Peter Kempny oder die Ottenschlager ihren Komponisten Franz Xaver Flamm, der der Uraufführung der Zauberflöte beiwohnte und nach Mozarts Tod Constanzes Rechtsvertreter war. Die Motivation für das Verfassen des Buches war das Ensemble Peter Erharts, in dem er mit seiner Frau, einer Cellistin aus dem Orchester und einem befreundeten Geigerkollegen Trioliteratur in der einst gebräuchlichen, heute seltenen Besetzung für zwei Geigen und Cello spielt. Zwei CD’s hat das „Tonkünstler-Trio“ mit Hilfe des ORF Landesstudio NÖ eingespielt. Seine Liebe gilt dem 18. Jahrhundert, für ganz spezielle Entdeckungen hält der Autor die MusikMarian Paradeisers undThaddäus Hubers. Letzterer, 1742 in Niederhollabrunn geboren, schrieb Streichquartette, in denen Joseph II. fallweise den Cellopart übernahm. Einer der berühmtesten ist wohl Kurt Manschinger, der 1902 in Wieselburg geboren wurde und nach seiner Emigration 1938 in den USA als Vernon Ashley Karriere machte. Vor allem aber entstand in diesen 35 Jahren eine Fülle von Publikationen, zum Teil auch unter dem Mädchennamen Gerhartl veröffentlicht. Der Bogen reicht von kleineren Aufsätzen zu lokalhistorischen Detailfragen über Ausstellungskataloge bis zu militärhistorischen Schriften, zu einem Buch über den Wiener Neustädter Dom und zur Stadtgeschichte ,,Wiener Neustadt – Geschichte, Kunst, Kultur, Wirtschaft“, die bisher in zwei Auflagen erschien. Auch „populäre“ Werke wie ,,Wiener Neustadt in alten Ansichtskarten“, „Wiener Neustadt in alten Ansichten“ oder „Die Ruhe vor dem Sturm, Wiener Neustadt vor der Zerstörung durch die Bomben“, fanden ihren Weg zu den Lesern . 0 b Vo rträ g e oder Führungen, ob sie über Ferdinand Porsche oder den kaiserlichen Soldnerführer Florian Winkler sch rieb, über die Waldschule oder die „Wildensteiner Ritterschaft zur Blauen Erde“, immer war das Bemühen spürbar, ihrem Publikum auch das Gefühl zu vermitteln, daß die Geschichte lebt. Obwohl seit Juni 1994 in Pension, kann von „Ruhestand“ natürlich keine Rede sein. Derzeit arbeitet sie noch an den Korrekturen für den Museumskatalog des neuen Stadtmuseums, der im Spätherbst 1995 vorliegen soll. Und sie will noch „Schreibschulden“ abstatten, was konkret einen Band über Kaiser Friedrich III. und die Kaiserresidenz Wiener Neustadt meint. Der Würdigungspreis des Franz Stangler-Gedächtnispreises ist also die Anerkennung für ein Lebenswerk, das noch weiter wachsen sollte.