Graziella Hlawaty

Literatur

Die andere Seite der Welt

Vom April bis September jobbt sie als Kassierin in einem Selbstbedienungsrestaurant in Schweden. Ihre Freizeit verbringt sie, sofern das Wetter es zuläßt, auf einer Insel in der Schärenwelt vor Stockholm. Dort hat sie eine einfache Holzhütte gemietet, ohne Licht, ohne Gas, ohne Trinkwasser und ohne direkte Bootsverbindung zum Festland. Graziella Hlawaty hat die Bedürfnislosigkeit zum Prinzip erhoben. Von dem, was sie in knappen sechs Monaten verdient, lebt sie das übrige Jahr. Mit den Möwen kehrt sie im Spätherbst, wenn es auf ihrer Insel zu unwirtlich wird, nach Wien zurück. Hier tippt sie dann ihre Geschichten und Hörspiele in die Schreibmaschine. ,, Die Zeit wird stillstehn, weil du von ihr berichtet hast.“ Dieser Satz aus einer ihrer Geschichten könnte als Motto vor allen ihren Texten stehen. In distanzierter, unprätentiöser Beschreibung von verkehrten Wirklichkeiten sucht sie Unbeachtetes, Unbedachtes oder übergangenes einzufangen. Von Einsamkeit ist die Rede, vom Verlust unseres Lebensraumes, vom Hingleiten auf jenes Ende zu, das meist am „Endpunkt“ ihrer Geschichten lauert. Immer wird in diesen ,,Miniaturen von großem inneren Format“ (Neue Zürcher Zeitung) vom Mitmenschen berichtet, keine Spur vom Ich, keine narzißtische Nabelschau. ,,AIie Ereignisse, alle wahren und wirklichen Geschichten haben ihr zweites Gesicht, ihre andere Seite“, heißt es in einer dieser Erzählungen. Und eine andere beginnt mit dem Satz: ,,Eigentlich, von mir ausgehend, hätte ich nie die Absicht gehabt, hinter die Dinge sehen zu wollen.“ Doch genau das, ob Absicht oder nicht, tut Graziella Hlawaty, und ,,mit einem gelinden Schock fragt man sich, ob es nicht allerhöchste Zeit wäre, die Welt einmal von der anderen Seite her anzusehen, um sie und unseren Standort darin besser zu begreifen“ (Jeannie Ebner). Große, braune Augen, kurzgeschnittenes Salz-und-Pfeffer-Haar, und eine Ruhe, die vom Alleinseinkönnen zeugt, sind das Auffallendste an der Schriftstellerin. 1929 ist sie in Wien geboren, ihre Kindheit verbrachte sie in Triest. Ihre Begleiter waren die Geschichten, die Bilder, die sie erlebte, wenn sie stundenlang im Park der großelterlichen Villa saß. Im Gymnasium in Tulln begeisterte sie sich an den Großen der Literatur, an Hölderlin, Nietzsche, Rilke. Die Früchte dieser Zeit des Werdens und langsamen Reifens kamen viel später. Ihr erstes Buch, „Endpunktgeschichten“, 1977, trug der Achtundvierzigjährigen nicht nur gute Kritiken ein, sondern auch ein Stipendium des Unterrichtsministeriums: 6000 Schilling monatlich, und sie kam sich wie ein weiblieher Krösus vor. (Herrlich fände sie es, wenn sie einmal so viel Pension kriegen würde!) 1979 brachte sie ihr zweites Buch heraus, einen Roman mit doppeltem Boden, in dem auf zum Teil phantastische Weise die Frage nach der menschlichen Existenz gestellt wird:„Bosch oder Die Verwunderung der Hohltierchen“. Auf die Hohltierchen kam Graziella Hlawaty, nach eigener Aussage, durch das Betrachten von Bosch-Bildern in der Wiener Akademie der Bildenden Künste, auf denen Menschen sich in Baumhöhlen, in Muscheln und Früchten verkriechen. Hieronymus Bosch, 1450-1516, gehört zu den geheimnisvollsten, am meisten umstrittenen Malern Europas. Vier Jahrhunderte vor Sigmund Freud malte er eine Geheime Offenbarung der Seele: seltsame Tiere und Fratzen, obszöne Zeichen und ausgeklügelte Martern. Der Unterschied, der meiner Meinung nach zwischen den Bildern dieses Mannes und denen anderer besteht, erklärt sich daraus, daß die anderen meistens den Menschen zu malen suchen, so wie er von außen erscheint, dieser allein aber den Mut hat, die Menschen zu malen, wie sie im Inneren sind.“ Dieser Satz eines spanischen Mönchs, geschrieben 1605, kündigt Verwandtschaftsverhältnisse an! Zugang zu den Bildern des Hieronymus Bosch findet Graziella Hlawaty mit der Frage, wie Kunstwerke entstehen und wirken. Sie erzählt, was jedem wiederfahren kann, der sich mit diesen Bildern voll Grauen und Entsetzen, voll eigenartiger Tiere und Symbole einläßt. Während eines Festivals historischer Filme springt der Funke auf den Regisseur Michäl Rodnoc und von ihm auf seine Umgebung über. Er, der bisher subtile psychologische Studien gedreht hat, erfolgreich, doch angekränkelt von des Gedankens Blässe, schickt sich an, einen Bosch-Film zu drehen. Keiner der Festivalteilnehmer, die mehr oder minder gelangweilt oder zynisch die zu Zelluloidgreueln vermarktete Menschheitsgeschiche über sich ergehen lassen, hat sich näher mit dem Maler beschäftigt, keiner ahnt, daß er längst Macht über ihn gewonnen hat, daß sie allesamt Gefangene im Garten der Lüste sind. Bosch mit seinen Visionen der Grausamkeit, Selbstsucht, Raffgier und Einsamkeit hält ihnen den Spiegel vor: niedere Tiere sind sie, Hohltierchen, Panzertierchen, Geißeltierchen, Einzeller, die nicht miteinander leben, nur nebeneinander auskommen können… Das Faszinierende an diesem Buch, und damit auch das stilistisch Modeme, sind die Überlagerungen in den Handlungsabläufen, in den Personen, heutigen wie historischen, in den schöpferischen Prozessen und auch in den zerstörerischen. Konsequent setzte Graziella Hlawaty mit ,,Erdgeschichten“, 1981, ihrer vorläufig letzten Buchveröffentlichung, ebenso wie mit den von Radio NÖ realisierten Hörspielen „Der Wettbewerb“ und ,,Eine Höhlenbesichtigung“ das Thema fort, das sie in den Endpunktgeschichten“ angeschnitten hat, nämlich das menschliche Versagen dem Nächsten und der Umwelt gegenüber. Sie dringt hinter die rissige Fassade des Jet-set, spürt der inneren Vereinsamung des Menschen nach, seiner Kontaktarmut, seinem mangelnden Verständigungsvermögen. Besonders die Alten, die seelisch Verletzten sind es, die in diesen zum Großteil auf eigenen Erlebnissen beruhenden Geschichten eine Rolle spielen. Menschen, die nicht in den rasenden Verschleiß von Haben und noch mehr Haben-Wollen einbezogen sind, Geißeltierchen, Panzertierchen, Hohltierchen auch sie. Trotz der deutlichen Zeichen der Desorientiertheit des Menschen enthalten die „Erdgeschichten“ letztlich doch einen optimistischen Hauch. Das beginnt mit der Landung außerirdischer Wesen in der Wachau, wo sie von dem Duft der Erde beeindruckt werden eine Mahnung, darauf zu achten, daß uns der „Erdgeruch“ erhalten bleibe und wir nicht gleichsam Fremde werden auf unserer Erde-, setzt sich fort über das „Fest im vierten Stock“, mit dem eine alte Frau ihr Alleinsein überwindet, ist selbst noch, in der Versuchten Heimreise“, in dem Willensakt des Hungerkünstlers zu spüren. Noch gibt es Empfindsame, die gefühlsmäßig mitwachsen wollen und durch ihre Aussage helfen können; noch gibt es geistig Regsame, die Realität nicht als selbstverständlich Gegebenes und Hinzunehmendes begreifen, sondern vielmehr immer nach dem Dahinter fragen.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 1987