Krautrock, Keyboards und Klangspeicher
„Ich mache Musik nicht von der Theorie her, sondern aus dem Bauch oder aus dem Herzen, aus dem prallen Leben heraus“, sagte Hans Joachim Roedelius in einem Interview mit der deutschen Zeitung Die Zeit.
Seit über 50 Jahren ist Hans Joachim Roedelius als elektronischer Musiker und Komponist aktiv und kann neben seiner beeindruckenden Biografie ebenso auf ein immenses künstlerisches Schaffen zurückblicken: Mehr als 1.500 Werke sind bei der GEMA registriert, seine Diskografie reicht von zahlreichen Solo-Veröffentlichungen über Veröffentlichungen seiner Bands bis hin zu Kooperationen mit anderen Künstlerinnen und Künstlern.
Vor seiner Berufung als Musiker durchlief der 1934 in Berlin geborene Roedelius viele Stationen: In den späten 1930er-Jahren war er Kinderschauspieler in Produktionen der deutschen UFA. Später wurde er in Ostdeutschland zur kasernierten Volkspolizei eingezogen, floh nach Westdeutschland, kehrte nach Zusicherung von Straffreiheit in die DDR zurück, wurde aber dennoch nach einem Prozess für zwei Jahre inhaftiert – unter anderem in Zwickau als Bergarbeiter. Danach absolvierte er eine Ausbildung zum Krankengymnasten und floh 1961 erneut nach West-Berlin. Bevor sein Examen dort anerkannt wurde und er als Physiotherapeut und Masseur tätig sein konnte, arbeitete Roedelius unter anderem als Krediteintreiber, im Fruchthof und als Detektiv.
1968 war Hans Joachim Roedelius Mitbegründer der Musikkommune „Human Being“ und des „Zodiak Free Arts Lab“, damals zentraler Untergrundclub in Berlin. Er war ein wichtiger Akteur des Krautrock-Genres. Mit Conrad Schnitzler und Dieter Moebius entstand die Formation „Kluster“, die ab 1971 nach dem Ausscheiden Schnitzlers in „Cluster“ umbenannt wurde. Mit dem Gitarristen Michäl Rother gründete er die Formation „Harmonia“. In der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre traf er auf die Legende Brian Eno, was zu Kooperationen Enos sowohl mit „Cluster“ als auch „Harmonia“ und zu gemeinsamen Aufnahmen führte. „Cluster“ war mit Unterbrechungen bis 2010 aktiv, aus einem weiteren Besetzungswechsel entstand anschließend „QLuster“.
1978 veröffentlichte Roedelius sein erstes Soloalbum, 1979 erschien der erste Teil seiner Selbstportrait-Serie, die seither in unregelmäßigen Abständen weitergeführt wird. Erst im April 2020 wurde Selbstportrait – Wahre Liebe veröffentlicht, seine 47. Veröffentlichung als Solokünstler. Die Musik von Hans Joachim Roedelius lebt im Moment und muss nicht reproduzierbar sein. Dazu sagte der Künstler: „Auch das Wiederkäuen auf der Bühne ist meine Sache nicht.“ Seine Alben werden live und improvisiert eingespielt. Während seiner Konzerte geht er musikalisch auf das Publikum, die Atmosphäre und den Konzertraum ein, während er mit vorbereiteten Klangquellen zwischen Keyboard, Laptop und iPads arbeitet.
In einem Interview sprach Hans Joachim Roedelius einst von einem „Klangspeicher“ in seinem Kopf, der sich aus den verschiedensten Geräuschen und Klängen zusammensetzt. Ein ganzer Raum ist voll von seit 1968 mitunter aufgenommenem Material, darunter auch einiges, das der Komponist noch veröffentlichen möchte. „Ich höre in die Vergangenheit und schaue in die Zukunft mit dem, was in der Vergangenheit war“, sagt Roedelius.
Vor 17 Jahren gründete er das von einem Symposion begleitete Musikfestival More Ohr Less, das bis vor fünf Jahren ausschließlich in Lunz am See und mittlerweile auch am Wohnort des Künstlers in Baden stattfindet. Auf der Lunzer Seebühne inmitten der eindrucksvollen Naturkulisse, aber auch an einigen der schönsten Plätze von Baden, finden Live-Musik, Vorträge, Lesungen sowie Film- und Tanzvorführungen statt. Künstlerinnen und Künstler sowie kulturinteressierte Menschen erhalten die Möglichkeit, sich in entspannter Atmosphäre interdisziplinär auszutauschen.
Einstweilen hat sich Roedelius vermehrt dem Klavier zugewandt. Er schreibt und spricht außerdem. 2016 erschien Roedelius – Das Buch, eine knapp 450-seitige Sammlung autobiografischer Zeugnisse, Briefe, Notizen, Lyrik, Erklärungen und Gedanken.