Musik als Fenster der Seele
Darf man dergleichen überhaupt schreiben? Aussprechen, in einer Zeit, deren künstlerischer Ausdruck zumindest von rastloser Suche nach der eigenen Identität geprägt ist? Ist es nicht Blasphemie, begangen an den im Parnass Verewigten? Man darf. Der Verfasser ist überzeugt, daß das Kriterium dieses Halbsatzes einzig die über das rein Künstlerische hinausgehende, allgemeinmenschliche Wahrhaftigkeit ist. Und nun legen wir diesen Raster an unseren diesjährigen Würdigungspreisträger für Musik, Heinz Kratochwil, an. Biographie: 1933 in Wien geboren. Gymnasium in Mödling. Studien an der Wiener Universität (Germanistik) und an der Musikhochschule (Schulmusik, Gesang, Komposition). Seine Lehrer in Theorie und Komposition: Ernst Tittel, Alfred Uhl und Othmar Steinbauer. Ab 1957 unterrichtet er für fast zwei Jahrzehnte am Theresianum Deutsch und Musik, daneben seit 1962 an der Wiener Musikhochschule. Seit 1973 ist Kratochwil ordentlicher Hochschulprofessor. Dazu eine stattliche Anzahl von Ehrungen, Auszeichnungen, Kompositionspreisen. So weit, so gut. Andante con variazioni. Das kompositorische Schaffen: Beginn mit postromantischen Zügen, bald konkret-persönliche Anwendung der Steinbauerschen Klangreihenlehre, später Rückkehr zu freier Tonalität mit stärkster Betonung des Synthesecharakters. Rund 170 Opera: etliche Orchesterwerke, mehrere Instrumentalkonzerte, diverse Solo- und Kammermusik; reichhaltiges Vokalschaffen, insbesondere für Chor. Zuletzt fertiggestellt: eine Kirchenoper ,,Franziskus“. Unzählige Bearbeitungen. Was können Worte über Musik sagen? Kann ein Stück wie Kratochwils ,,Adagio für Streicher“, Dauer: 10 Minuten, musikhistorische Kategorie: Alban Berg- Nachfolge, überhaupt beschrieben werden? Mit seinem Schmerz und Glück, seinem Hoffen, seiner Resignation, die so rein und pur an die Ohren dringen? Kann man sein ,,Hohes Lied der Liebe“ für Mezzosopran, Bratsche und Orgel beschreiben, mit seiner simultanen Ausstrahlung von Esoterik und Eros? Seine ,,Missa nova“ für Chor, Orgel und Schlagzeug mit ihrem abrupten Aufeinanderprallen von Gregorianik, Jazzrhythmen und Bitonalität? So verschiedenartig Kratochwils Musik sein kann, so heterogen ihre Bausteine wie Stimmungen sind-der Hörer glaubt ihm, daß er das, was er im Moment musikalisch ausspricht, sagen will, sagen muß. Dieses Zwingende ist dort vorhanden, wo er aleatorische Passagen in seine Werke fügt (und solcherart den eigentlichen Begriff der Aleatorik ad absurdum führt) – und ebenso, wenn einem panisch-virtuosen Ausbruch am Klavier eine romantisierende Melodie voller Dur- und Moll-Seligkeit folgt. Heinz Kratochwil ist ein Menschenkenner. Selbsterfahrung, Familie, Freunde, Schüler und Studenten haben ihn offen gemacht. Ihm ist nicht jedes Mittel recht, aber keines a priori zu schlecht, denn er weiß um die Dialektik zwischen subjektiver und objektiver Richtigkeit Bescheid. Was in dieser Situation richtig ist, kann in jener falsch sein; was an dieser Stelle einer Komposition Organizität bewirkt, kann an einer anderen Unstimmigkeit hervorrufen. In /taktigen Jazzimprovisationen wohnt ebensolche immanente Wahrhaftigkeit wie in reihenstrukturierten Akkorden… Das Richtige, das Wahrhaftige, das Schöne hervorzukehren-, welche Aufgabe für einen Musiker, für einen Pädagogen! Hunderte Studenten kennen Kratochwil von der Internationalen Chorakademie in Krems, zu deren Vätern und Mentoren er seit Anbeginn gehört, kennen seinen Frohsinn, seine Arbeitsbesessenheit, goutieren seine auf untrüglichem Gehörsinn fußende Kritik wie die völlige Freiheit, die er ihnen in der Wahl ihrer Mittel läßt. Stimmbildung, Gehörbildung, Chorkomposition, Analyseall das lernt man bei ihm und lernt es mit Freude. Und seine unzähligen Studenten an der Abteilung Musikpädagogik der Wiener Musikhochschule wissen ebenfalls, daß sie all dies von ihrem Lehrer haben können- und noch mehr: so ist im Vorjahr etwa eine von Kratochwil initiierte und in allen Details bis zur Vollendung durchgefochtene Schallplatte mit Kompositionen seiner Studenten (darunter übrigens vorwiegend Niederösterreicher!) erschienen. Und auch beim Niederösterreichischen Tonkünstlerorchester, das sich oftmals mühsam plagen muß, zeitgenössische Musik zum Klingen zu bringen, deren Gehalt und Machart auch für den Berufsmusiker kaum dingfest zu machen ist, gewinnt man immer wieder den Eindruck, daß Kratochwils Werke „klingen“, weil sie verstanden werden- oder, besser gesagt: mitempfunden werden können. Wir sehen: ob engagierte Laien oder erfahrene Berufsmusiker: Kratochwil weiß, was er für wen schreibt. Ein so simpel scheinender Satz, geradezu ein Gebot in unseren Tagen, das so selbstverständlich klingt. Und – wie oft wird dagegen verstoßen! Ein Blick in das Repertoire unserer Chöre an zeitgenössischer Musik zeigt das deutlich auf: Warum so viel, so oft Kratochwil? – Wohl kaum, nur weil er ,,so nett ist“. Schon eher, weil seine Chorsätze – unabhängig vom Schwierigkeitsgrad-ein echter, individueller Ausdruck unserer Zeit sind. Am wahrscheinlichsten: weil der Komponist seine Seele hineingelegt hat -, jedenfalls ein Stück davon. Heinz Kratochwil als Komponist, als Pädagoge, als Bearbeiter, als Lyriker (ist er auch!)… oft genug beschäftigt er sich mit dem, was keinen Bestand hat, kämpft fruchtlose Kämpfe, versucht, Schatten zu bannen. Doch er ist weder Positivist noch Skeptiker. Vielleicht ein wenig Don Quixote-, aber welcher ernstzunehmende schöpferische Künstler ist das nicht in gewissem Maße? Wenn seine Werke klagen, klagt er in ihnen, wenn sie lachen, lacht er mit. Kratochwil ist ein Künstler, der sich in seinem Werk verschenkt, seiner Seele ein Fenster öffnet. Seine Musik ist der Mensch unserer Zeit.