Helmut Kandl

Medienkunst
Künstlerische Fotografie

Das Fremde und das Eigene

Helmut Kandl ist ein Xenograph des Vertrauten, ein Ethnologe, der nicht in entfernte Gegenden reist, sondern ein nahes Terrain erforscht. Wie ein Fremder sieht er auf die kulturellen Ausformungen der Gesellschaft, dessen Teil er ist und in der er lebt. Im Geläufigen entdeckt er das Unbekannte, im Heimischen das Exotische. Damitwerden Dinge zur Geltung gebracht, die wir ständig übersehen, weil sie im Alltäglichen eingebettet sind. Kandl ist aber auch ein Ethnologe, der in unbekannte Regionen vorstößt, jedoch nicht um dort Unterschiede zum Gewohnten hervorzukehren, sondern auf das Gleichartige hinzuweisen. So erkennen wir das Fremde als Teil des Eigenen, und manches Eigene sehen wir nur, weil es im Fremden ebenfalls präsent ist. Kandl operiert mit allen möglichen Materialien: FotografienvonAmateuren und Berufslichtbildnern, Zeitungsausschnitten, Notizen, Souvenirs. Die Objekte sind Ergebnisse von Recherchen, die zu einem bestimmten Thema angestellt werden. Oder bei zufälligen Begegnungen treten Stücke hervor, die zu einem Projekt anregen. Fundorte sind ebenso Museen wie Haushalte, Firmenarchive wie Flohmärkte.Jede Aufzeichnung steht für eine vergangene Erfahrung, ein individuelles Erleben, eine spezifische Absicht. Indem diese Dokumente aus dem jeweiligen Archiv entfernt und öffentlich zur Schau gestellt werden, fungiert der Künstler als Historiker, der aus dem Fundus der Geschichte wählt, um eine andere zu erzählen. Die Handschrift Kandls ist das Zitat, das in andere Zusammenhänge und Reihenfolgen überführt wird. Im Versetzen der Grenzen werden neue Endlichkeiten geschaffen. Das bringt die Ordnung, die unseren Alltag bestimmt, ins Wanken. Wir versuchen ja, unser Leben in Bahnen zu halten, indem wir beispielsweise fotografieren, die Abzüge im Familienalbum reihen und damit unsere individuelle Geschichte entwerfen. Oder wir benutzen bestimmte Stereotypen, wenn wir beispielsweise im täglichen Umgang gebräuchliche Redewendungen verwenden, um uns verständlich zu machen. Wenn aber Extrakte daraus miteinander vermengt, kombiniert werden, treten Irritationen auf. Dann entlarvt sich das Besondere als banal und erscheint das Subjektive als allgemein. Andererseits mag man im Alltag, der uns langweilig erscheint, aufregende Bereiche und spannende Details entdecken, wenn man demträgen Blick entsagt, sein Augenmerk wechselt und auf andere Punkte fokussiert. Ein Merkmal der heutigen Mediatisierung des privaten Lebens ist seine Entäußerung als öffentliche Angelegenheit. Wenn Kandl private Außerungen in seinen Zusammenfügungen-Bild oder Text das eine wie das andereaufeiner neuen Ebene zur Anschauung bringt – häufig als Video, gelegentlich als Plakat, manchmal als Ausstellung -, nutzt er ebenso die voyeuristischen Neigungen des Publikums wie dessen Sehgewohnheiten. Ein aktuelles Projekt mag dies verdeutlichen: ,,Herr Doktor aus Wien“, entstanden, 1998/99. Die Vorführung von rund 800 Aufnahmen eines Arztes aus den 1930er bis 50er Jahren in einem Video im Takt von zwei Sekunden entspricht in Tempo und Format der gängigen Praxis, wie Bilder heute betrachtet werden. Die Auswahl aus einer privaten Produktion von zirka 14.000 Negativen erfolgte nach Themen und Motiven: Hochzeit und Familie, eine nackte Frau und Jagdausflüge, verletzte und operierte Patienten, unbekannte Personen und Freunde, die Straßen bei Hitlers Auftreten in Wien, Zerstörungen des Krieges. Private Erscheinungen mischen sich mit öffentlichen, das eine durchdringt das andere, doch die Neugier wird nicht befriedigt: Denn zwar taucht der Protagonist in der einen oder anderen Aufnahme auf, gewinnt aber keine Konturen als Mensch und Persönlichkeit. Fotografien entsprechen nicht der Wahrnehmung ihres Autors, sondern sind lediglich Ergebnisse seiner Blicke. Die Vielfalt der Bilder ist eine äußerliche, und was bekannt vorkommt, sind lediglich die formalen Entsprechungen zu den Bildern, die man im Kopf hat. Der Betrachter der fremden vertrauten Welt wird zurückgeworfen auf die eigene. Der Satz von Hölderlin: ,,Aber das Eigene muss so gut gelernt sein wie das Fremde“ hat Helmut Kandl erweitert durch seine Umkehrung.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 2001