Helmut Korherr

Literatur

Goldoni im Blut

Das Wiener Volkstheater hatte seine literarische Sensation. „Es gab viel Beifall von einem jugendlich unterwanderten Publikum, das premierenuntypisch vor allem die Autoren mit Bravorufen verabschiedete, was diese fast verschreckt, doch zunehmend selbstbewußt zur Kenntnis nahmen“, schrieb der Kollege von den Salzburger Nachrichten, der an diesem denkwürdigen Freitagabend im Jänner 1974 neben mir (ich war damals Theaterkritiker der Grazer Kleinen Zeitung) im Parkett saß. .Jesus von Ottakring“- „ein Volksstück vom selben Sprachwitz und Biß, derselben verzweifelten Wehrlosigkeit und Abgründigkeit wie Nestroys oder Qualtingers Tragikomödien“ – machte die beiden 24jährigen Autoren Helmut Korherr und Wilhelm Pellert über Nacht berühmt. Das Thema des heutzutage bereits recht verstaubt wirkenden Stücks, das Scheitern eines Gerechten, war weder neu noch originell, aber es war das richtige Stück zur richtigen Zeit. Seinen Riesenerfolg verdankt es, wie Johannes W. Paul später einmal analysiert hat, ,,dem Umstand, daß es von zwei Autoren geschrieben wurde, die noch zu jung waren, um soziales Mitgefühl unkritisch, damit aber ungebrochen zu empfinden, technisch aber bereits soweit, daß sie es in einer künstlerisch verbindlichen, ansprechenden Form an ihr Publikum herantragen konnten“ (NO Kulturberichte, März 1985). Der kometenhafte Aufstieg bescherte dem Jungdramatiker Helmut Korherr zuerst einmal Kollegenneid und in der Folge dann eine künstlerische Krise, die sich gewaschen hat. Denn der geniale Wurf wollte und wollte sich nicht wiederholen lassen. Dazu kam, daß der Autor seiner Begabung mißtrauisch gegenüberzutreten begann, daß ihm ,,das gestaltete, nicht das erlauschte und übernommene Wort“ wichtig wurde, daß er zunehmend den Wunsch verspürte, ,,vom Dokumentator zum Dichter zu werden“. Ein Ausweg aus der Sackgasse eröffnete sich dem gebürtigen Wiener mit seiner Übersiedlung ins Weinviertel. Mehr darauf hoffend als davon überzeugt, daß auf dem Land ungehobene intellektuelle und kreative Schätze schlummerten, bezog er 1982 ein zweihundertjähriges Bauernhaus in dem Kraut- und Tabakort Goggendorf bei Hollabrunn und begann dort ,,unter Leuten, die gar nicht wissen, was ein Schriftsteller ist“ alsbald sein privates Dorferneuerungsprogramm. Gemeinsam mit der „Weinviertler Neuberin“ Franziska Wohlmann stellte er aus ambitionierten Laiendarstellern ein Theaterensemble zusammen und fing an, es mit Stücken zu versorgen, die hinsichtlich Sprache, technischem Aufwand und Spielbarkeit den (bescheidenen) ländlichen Verhältnissen entsprachen. Dabei wahrte er zwar alle lokalen und historischen Anknüpfungspunkte, erweiterte und aktualisierte aber gleichzeitig das Themenspektrum. Die erste Auseinandersetzung mit der neuen Heimat erfolgte mit dem Räuber-und-Gendarm-Spiel „Grasel“. Es ist die ewige Moritat von arm und reich, vom Aufbegehren und Niederdrücken, von Raub und Sühne, List und Verrat. Die Sympathien des Autors gehören, wie könnte es anders sein, dem Räuber, nicht dem Schanti. Grasei ist für ihn kein romantischer Wilderer, sondern allein durch seine Herkunft zum Verbrecher gestempelt. Er ,,schnuppert nach Freiheit“, unterliegt jedoch der Raffinesse staatlicher übermacht. Die Ursachen asozialen Verhaltens sind Korherr wichtiger als das Verhalten selbst. Gesellschaftskritisches findet sich auch in dem Zauberstück „Gokulorum“. Der Held der locker aneinandergereihten Episoden stammt, wie Grasei, aus ärmlichsten Verhältnissen, seine soziale Beschädigung beginnt mit der Geburt. Carl Casimir Henninger, 1829-1881, genannt Gokulorum, Frucht eines adeligen Seitensprunges, wuchs als Findelkind in Amaliendorf auf. Ein Kirtagsgaukler beeindruckte den Kleinen derart, daß er nach Wien ging, um bei dem berühmten Kratky-Baschik das Zaubererhandwerk zu erlernen. Auf Grund seiner außergewöhnlichen Fertigkeiten erhielt er Zugang zum Kaiserhof und wurde- ein wahrhaft österreichisches Schicksal-von Franz Joseph sogar mit dem Professortitel ausgezeichnet. Die schillernde Person des Waldviertier Magiers und Illusionisten, die schon Josef Pfandler fasziniert hatte, bietet Korherr Gelegenheit, Theater nicht nur in Schillerschem Sinne als moralische Anstalt, sondern vor allem als barocke Schaubühne zu benützen und die spielerische Gestaltungsfreude seines Ensembles herauszufordern. Die Uraufführung in Minichhofen bot denn auch ein Mordsspektakel mit elektronischen, choreographischen und optischen Gags, mit rotierenden Feuerrädern, zischenden Raketen, Nebel aus Trockeneis, einem wirbelnden Hexentanz und überraschenden Zaubertricks. Zusammen mit einer szenischen Biographie des aus Ruppersthal stammenden Haydn-Schülers Ignaz Pleyel, des Komponisten der Marseillaise, sind die Stücke als Spielvorlage für ländliche Theatergruppen in der Edition Thurnhof in Horn erschienen. Korherr arbeitet gerne im Team, auch im Team mit anderen Autoren. Mit Wilhelm Pellert verfaßte er, nach ,,Jesus von Ottakring“, das Jugendbuch ,,Fridolin und Barto“, mit Wolfgang Palka „Cafe der einsamen Herzen“. Mit Anton Gössinger schrieb er ein Science-fiction-Hörspiel, mit Wolfgang Becvar ,,Mord in der Wurlitzergasse“ und die auf den Spuren des Herrn Karl wandelnden „Geschichten aus dem Supermarkt“: Herr Rudolf, Magazineur im Lagerraum eines Supermarktes, redet und redet fast allein, ein Lehrbub vom Lande darf sich an seiner Seite abrackern und muß dafür die Ergüsse anhören,,Volkes Stimme“ in ihrer fürchterlichsten Gestalt, wenn auch nicht prägnant genug, um wie sein berühmtes Vorbild zum Archetyp zu werden. Interessant an diesem Monolog aus der Froschperspektive ist der Prozeß übelster Verkleinbürgerung, wie er so manchem aus der 68er-Generation widerfahren ist: als langhaariger Student hat Herr Rudolf noch für die Rechte der Minderheiten demonstriert, heute geht er auf die Tschuschn los wie alle anderen…Helmut Korherr ist der geborene Dramatiker. Seine überzeugendste Ausdrucksform ist das gesprochene, fast improvisierte Wort, parodistisch überhöht und damit relativiert. Seine Stärke liegt zweifellos darin, dem Volk nicht nur aufs Maul, sondern auch ins Herz zu schauen. Er hat, nach Meinung des Kollegen Friedrich Heller, nicht nur Goldoni im Blut, sondern auch einen Schuß Hemingway, Charles Bokuwski und Henry Miller. (Bei nächster Gelegenheit muß ich Helmut Korherr fragen, was er von derartigen Vergleichen hält. Mir fehlt Ödön von Horvath in dieser Ahnenreihe.) Das soziale Mitgefühl ist im laufe der Zeit durch das Engagement für die Umwelt überlagert worden. Charakteristisch dafür scheint mir die Satirensammlung ,,Saures aus dem westlichen Weinviertel“. In sieben stilistisch die Eipeldauerbriefe persiflierenden Episteln und Gedichten an einen Freund in der Stadt stellt Korherr der träumerischen Dorfbegeisterung die Realität gegenüber: Waldsterben, Insektizide, Kunstdünger, Glotzfenster, Legebatterien und so weiter. Mit dem Holzhammer, aber um so anschaulicher, reimt unser Grünapostel: ,,Die Sau kriegt’s Futter aus der Fabrik,/ da wird sie schneller groß und dick./ Die Schnitzel gehn in der Pfanne ein / wie der Schneemann bei Sonnenschein. / Was ist bloß hier am Lande los?“

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 1988