Hermann Jandl

Literatur

Clownerie und Weisheit

AIs in Deutschland der erste Gedichtband „Leute, Leute“ von Hermann Jandl 1970 im S. Fischer Verlag erschien, hatte die deutsche Kritik zunächst den Schock zu bewältigen, dass es der österreichischen Literatur an einem erfolgreichen Jandl noch immer nicht genug war. Zu zweit drangen sie in die Hochbrg deutscher Verlage ein. Nun musste man versuchen, die zwei blutsverwandten Autoren stilistisch
gegeneinander abzugrenzen. Doch die Jandls sind ja die ersten nicht. Und wenn sich nach nur die Bilder Goncourt oder Grimm ausdrücklich zur Paarigkeit bekennen, so haben wir doch gerade in Osterreich eine ganze Reihe von solchen Familiendoubles: die beiden Haydn, die beiden Klimt, die beiden Kokoschka oder gar die Vater-Söhne-Trilogie Jakob, Rudolfund Franz Alt.

wie lautet die Einzahl von Leute“?
Nach zwei Jahrzehnten stellt sich heraus, wie spürig die Kritik der Hannoveranischen Zeitung I9T0gewesen ist, wenn sie damals die Formulierung wagte:
Ernst hat es mehr mit der Sprache, Herman hat es mehr mit den Leuten zu tun.
Es wäre nur noch z ergänzen, dass Ernst Jandl seither in der einen Sprache immer neue verblüffende Sprechmöglichkeiten erkundet hat. Der jüngere Bruder Hermann aber hat sich in diesem Vierteljahrhundert seiner Entwicklung den Weg gemacht, die Einzahl von Leute zu finden, was nicht mehr und nicht weniger bedeutet, als den Menschen zu suchen. Gibt es ihm denn nicht schon? Zu diesem Urproblem der Menschwerdung aus einem Haufen von Leuten, also zum Problem der Individuation, summiert der ehemalige Pädagoge Hermann Jandl seine Berufserfahrungen:
den vater zeugen
den vater gebären
den vater erziehen /
die mutter zeugen
die mutter gebären
die mutter erziehen /
die lehrer zeugen
die lehrer gebären
die lehrer erziehen /
dann geboren werden
Wen Edwin Hartl in den Salzburger Nachrichten (1983) über Hermann Jandl schreibt: „Einige Anklinge zu formalen Gepflogenheiten der konkreten Poesie parodieren diese eher, als dass sie sie mitmachen“, so unterstreicht auch er Hermann Jandls von der Hannoverianischen Kritik betonte Eigenständigkeit.
Durch alle diese erschienenen Bücher vom frommen Ende“ (1971), .Storno (1983), .Übersiedlung (1985) ud.Lieht (19s) geht ein Leitmotiv: Wie ist es möglich, in unserer Epoche, da die sinstiftende Finalität verloren zu gehen droht und der Zweifel am Glauben ebenso wie am Wissen nagt, ein halbwegs normaler Mensch zu sein oder zu werden?
Wenn der Junggeselle Heinrich in der Übersiedlung“ seine Waschmaschine betätigt und das Waschpulver zur Hand nimmt, sind wir sofort mitten drin in solchen uferlosen Fragen: „Man möchte es nicht für möglich halten, das Leitungswasser ist ungemein kalkhaltig. Manche meinen, das sei gesund für die Knochen, andere behaupten, es fördere die Verkalkung. Mein Gedächtnis ist ohnehin schon so schlecht. Wem kann ich glauben? Ich weil aber immer, dass alles, was ich mache, falsch ist.“
„Kalken oder nicht kalken“ ist aber für Hamlet in der Küche gar nicht mehr die Frage. Denn er weiß, dass dies sofort eine andere Alternative nach sich zieht: Ob’s edler im Gemüt, an Knochenerweichung oder an Gehirnverkalkung zu enden. Wie diesen ungesunden Polaritäten von weich und hart entwischen? Das Wasser jedenfalls ist viel zu hart, beinhart! In solcher Klemme bedarf man der Lebenshilfe vom Fachmann, von den Wissenschaften. Diese heißen aber nur zum Spaß oder euphemistischer Weise „positiv“. In Wirklichkeit steckt das Wissensbudget tief im Defizit. Dies fasst Hermann Jandl als Kernwissen“ folgendermaßen zusammen:
Wenn er auch nicht weiß
ob er es tun soll
so weiß er doch stets
dass er auch nicht weiß
ob er es nicht tun soll
Aus solchem Kernwissen oder Wissenskernen züchten wir bekanntlich Atompilze.
Heinrich, die Zentralfigur dieser Erzählung. hat Philosophie., Juristerei und Medizin nicht mit heilem Bemühen studiert, sondern im kalten Angstschweiß aus Hypochondrie um den eigenen Korpus. Was sich sein Namenskollege bei Goethe zu böser Letzt von Gretchen sagen lassen muss, dass es ihr vor ihm graut, das sagt sich unser neuer Heinrich, ohne etwas Böses angestellt zu haben, gleich zu Beginn jeden Tag selber. Freilich, im dunkelblumigen Stil der Psychologie, wo dieses Grauen Depression“ heißt.
Ehemals in klassisch faustischer Zeit lauerte der Teufel auf solche labilen Momente. Heute hat die Werbewirtschaft dieses teuflische Geschäft übernommen. Die Wohlstandshexe empfiehlt die Übersiedlung in ein neues Auto oder in eine neue, größere Wohnung. Denn die Verjüngung geschieht heutzutage durch die Betonmaschine. Mit deren Hilfe übersiedeln wir bekanntlich in schönere Welten, obwohl wir in Wirklichkeit mit einem plattfüßigen Ich auf der Stelle treten.
Storno des Fortschritts
Hier meldet sich ein anderes Leitmotiv seines erzählerischen Schaffens an: der verändernden Bewegung, der Innovation, der modernen Mobilität stellen und stemmen sich Kräfte der Bewahrung entgegen. In „Übersiedlung“ und .Storno“ ist dieses Widerspiel von Aktio und Reaktio af die kürzeste Formel gebracht. Oder Erzählung „Storno“ wird die Lebensreise storniert. Ist in der Übersiedlung“ der faustische“ Junggeselle Heinrich Jandls Protagonist, so in „Storno“ der Zweifler Thomas, der seine überspitzten Fragen und Finger in die Wunden des Lebens legt. Die Folge davon ist eine mildere Form von Autismus: „Er nimmt nicht mehr teil. Er storniert das Leben durch Untätigkeit. Angst erzwingt die Lethargie. Der Zwang der Entscheidung erzwingt Entscheidungslosigkeit.“ Hans Heinz Hall, 1983). Diese innere Stagnation führt zu einem Wirklichkeitsverzicht.
Beruhigung
er braucht vor
nichts mehr Angst zu haben
er fürchtet sich vor allem
Zu diesem Zeitalter der Angst, einem Titel von W. H. Auden und Leonard Bernstein, hat Hermann Jandl einen spezifisch österreichischen Beitrag geliefert. Anknüpfend an unsere satirischen Traditionen seit Staberls Zeiten verkuppelt er die Simplizität an das Raffinement. Das Ergebnis ist eine Kreuzung von Trotterl und Schlaumeier, Anlass, über unsere eigenen Ängste zu schmunzeln oder gar zu lachen. Hermann Jandl arbeitet da für seine Figuren mit einem besonderen Trick: die bunte Vielfalt von Ängsten, die er mit komischer Pedanterie ausbreitet, schützt gegen die eine Angst vor sich selbst und dessen eigener Wirklichkeit.
In allen seinen Erzählungen wird ein groteskes Pandämonium von Ängsten durchgespielt: Angst vor der Krankheit, auf die man schon so lange gewartet hat, Angst vor Infektionen, die man sich von einer Bettdecke holen kann, wenn sie bis zum Mund reicht: Schriftstellerangst vor dem weißen Papier, dann aber auch vor dem beschriebenen Papier: „Ich komme mir so verlassen vor unter den vielen Buchstaben. Manche Sätze bedeuten viel mehr als meine ganze Person zusammen.“ Angst vor dem Altwerden: „Das Leben wird zwar immer bequemer, einfacher, schöner, einfach schöner, nur…ich weiß} nicht, kann es nicht sagen, will es gar nicht wissen: wie lang werde ich es mir noch merken, welcher Schlüssel was sperrt? Andererseits ist die Grenzerfahrung des Endlichen, die sich eben als Angst auf uns niederschlägt, die Grundlage künstlerischer Produktion: „Es war wichtig, ausgesetzt zu sein, das regt an, brachte ihn an den Rand der Verzweiflung, erhielt ihn produktiv.“
Es ist ein sehr reichhaltiges Repertoire von Mechanismen und antiphobischen Arrangements, mit denen die Figuren Jandls den Kampf mit der Angst aufnehmen. I vorauseilender Phantasie durchleidet man die zu erwartende Katastrophe so eindringlich und erbarmungswürdig, dass die Wirklichkeit in ihrem eigensten Interesse davon Abstand nimmt, tatsächlich noch einzutreten. Sie würde sich blamieren und nur einen schwachen, blassen Schatten des Traumungeheuers liefern. Eine typisch jandleske Methode im Umgang mit den Ängsten ist die Pedanterie, wobei immer die Hoffnung besteht, die pedantische Berechnungder Gefahrenmomente würde so viel Energie beanspruchen, dass dann für die Angstempfindung nichts mehr übrigbleibt als Apathie.
Und schließlich noch die Logotherapie! Heinrich lebt schreibend. O nein, die Bezeichnung Dichter, Schriftsteller oder Literat würde das Wesen dieser Schreib-Beziehung vollkommen verfehlen. Denn es ist die Aktion des Schreibens als solche, die bei Heinrich im Mittelpunkt steht. Wenn schon Leistungen und Rekorde von Schiläufern Rang und Ruhm erlangen können, warum denn nicht auch der flinke Bursche, der rechte Zeigefinger bei einem Schreibtraining? Immer mehr gerät er unter die Fuchtel des Schreibsports, der alle anderen Verbindungswege zu den Menschen versperrt. Zwar setzt ihm Sylvia, eine ganz entzückende Schöpfung Jandls, gewaltig zu. doch auch dieses quicklebendige, gelegentlich barsche, aber immer praktisch kluge Milchen vermag den Schreiber nicht umzustimmen. Diese übersteigerte Funktionslust im perfekten Schreibgefühl- und welcher Schriftsteller litte nicht mehr oder minder unter diesem Wahn? kann sogar darüber hinwegtäuschen, dass er nichts zu sagen hat. Ist doch bei diesem Formel-Eins-Rennen der Schreibmaschinen im Literaturzirkus ein definierbarer Inhalt gar nicht mehr erforderlich. Also erscheint die Literatur als eine Form der Neurose, die es nicht einmal-wie Janell in einem Aphorismus verlangt zur Alt-rose, sondern nur zum Altpapier bringt. Ein faserreicher Kohl, der ein geistiges Völlegefühl vortäuscht, aber auch Blähungen verursacht.
Unerlässlich für diesen tragischen Groteskstil wird die Lakonie der Darstellung. Mit einer unbarmherzigen Selbstkontrolle hat sich Jandl einen reduktiven Stil geschaffen. Da gibt’s kein überflüssiges Wort, das noch herausschwabben könnte. Der überspitzten ideologischen Hochstapelei stellt der Autor den ebenso verbreiteten intellektuellen Infantilismus gegenüber. Mögen die Großsprecher auch mehr Aufsehen erregen als die Kindereien, vielleicht sind sie doch noch gefahrlicher.
Die Komik mancher Szenen liegt darin, dass die Figuren in einer Trivialsprache, auf die sie wie auf bedingte Reflexe durch Reklame und sogenannte Lebenshilfe in den Massenmedien konditioniert worden sind, unvermittelt das hohe Ziel persönlicher Entscheidung und Entwicklung anstreben und ach zu erreichen hoffen. Klischees dienen als liturgische Litaneien und gewinnen Beschwörungscharakter. Der zimperliche Einzelgänger der Borderline reagiert dann nicht viel anders als die. Leute“, als die unbeholfene Masse. Zu deren Alltag, den Hermann Jandl mit unbestechlicher Genauigkeit nachzeichnet, gehört nun einmal auch der Sprachnotstand der Trivialität. Die wirksamste Notstandshilfe wäre wohl das Schweigen, eine Karthänusertugend, die aber unzulänglich geworden ist, seitdemsich alle Leute artikulieren müssen. Daher packt der Preisträger die Trivialität bei ihren hohlen Hörnern, um das, was man Gedanken nennt, was aber nur Wortschablonen verbirgt, ein wenig zu beuteln. Da gelingt oft schon bei kleinster Abweichung größtmögliche Überraschung.
O wiefrivol ist mir am Abend…
Bei solchen Kippeffekten kann sich Banalitüt einer Maturazeitung unvermittelt als Originalität, ja sogar als Weisheit entpuppen, wie zum Beispiel in den Zeilen, die mit .Prozeß“ iiberschrieben sind: „Aus unseren Neurosen werden allmählich Alt-rosen.“
Ebenso programmatisch wie orakelhaft heißt es: .Der Text soll auch das ganz Banale aufzeigen und gleichsam unterm Trocknen der Tinte erlöschen.“ Zum schlimmsten an Banalität gehört aber das auswechselbare Set von verbalen Fertigteilen, mit denen man die menschliche Natur zersiedelt und verhänselt. Allgemeines Artikulationsangebot und persönliche Stimme, Glauben und Wissen, irrationales Empfinden und rationales Denken prallen zuweilen schockartig aufeinander wie zum Beispiel in den Zeilen: vater unser soll noch leben /vater meiner ist schon tot.
Zu den Rätseln der Kunst gehört es, dass der Talentierte aus ihr einen Mehrwert an Wahrheit hervorbringt, der sich aus dem issen und der Meinung der Zeit nicht unmittelbar ableiten lässt. Aber auch die Lüge steht glänzend und betörend in Münchhausens Macht. Wenn das Reden über die Freiheit der Kunst mehr als einen juridischen und zensorischen Sinn haben soll, so liegt er darin, den Künstler zur Entscheidung aufzurufen. Herann Jandl hat sich für die Wahrhaftigkeit entschieden. Und diese ist immer preiswürdig.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 1993