Bildwelt voll Witz und Ironie
Hildegard Joos gehört zu jenem Kreis österreichischer Künstler, der sich nach dem Vakuum der Kriegsjahre der Aufgabe gegenüber sah, eine neue künstlerische Basis aufbauen zu müssen. Nach einer ersten Periode, in der figurale Bilder mit expressivem Charakter entstanden, wandte sie sich gegen Ende der fünfziger Jahre einer gegenstandsfreien Malweise zu; mit rein malerischen Mitteln er probte sie die meditative Wirkung zarter Farbräume, die sie durch Überlagerung pastos aufgetragener, fast monochromer Farbschichten erzielte. In diesen malerischen Oberflächen begannen sich sehr bald durch fast unmerkliche lntensitätsabstufungen einfache geometrische Formen zu verfestigen, die in einem Schwebezustand aneinander vorbeizugleiten schienen. Diese Formwerdung aus der Farbmaterie markiert den Beginn des bis heute konsequent verfolgten geometrischen Gestaltens von Hildegard Joos. Im Laufe der sechziger Jahre beginnt sie eine enge Zusammenarbeit in theoretischen wie auch in praktischen Fragen mit Harold Joos (geb. 1913), die bis heute andauert. Hildegard und Harold Joos gehören zu den Mitanregern und Mitbegründern der 1975 in Wien gebildeten Gruppe ,,Exakte Tendenzen“.
In den frühen achtziger Jahren hat Hildegard Joos umfangreiche Bildserien geschaffen, in welchen sie das Thema ,,Formwerdung“ wieder aufgreift, jetzt aber unter Beschränkung auf ein lineares, präzise definiertes geometrisches Vokabular. Bildtitel wie ,,Aquivoke Evolution“ oder ,,Narrative Geometrismen“ weisen auf morphogenetische Abläufe hin, die sich auf der Bildfläche vollziehen. Zwar klingen in diesen Arbeiten Aspekte systematisch-konstruktiven Gestaltens an, doch werden die zentralen Forderungen dieser Richtung in sehr individueller Weise uminterpretiert.
Es ist ein Kennzeichen systematisch aufgebauter Werke, dass durch die Anwendung von Verknüpfungs- und Transformationsregeln auf ein einfaches Vokabular formbildende und formverändernde Vorgänge ausgelöst werden, die zum Bild bzw. zur Bildserie führen.
Hildegard Joos entwickelt demgegenüber keine stringent ausgebauten Beziehungsgefüge, die das Bildgeschehen lenken. Sie räumt vielmehr der Phantasie als Grundlage formbildender Vorgänge gegenüber einer Systematisierung einen bevorzugten Platz ein. In den ,,Narrativen Geometrismen“ erfindet sie ein formales Geschehen und vermittelt dabei den Eindruck, dass die gestaltbildenden Vorgänge durch die Wirkung innerer Kräfte, das heißt zum Beispiel durch Anziehung und Abstoßung, ausgelöst werden. So handeln verschiedene Bilder von der Annäherung und der Gruppierung, von der Verschmelzung und vom Zerfall von Formen. Man könnte von Mutationen sprechen, die sich auf der Bildfläche vollziehen. Das Zerfallsprodukt einer Verbindung ist jeweils das Resultat aus der Struktur der Einzelteile, weist aber neue formale Eigenschaften auf, die der Teilungsvorgang zum Vorschein bringt: So bilden zum Beispiel Quadrate eine Vierergruppe, verschmelzen zu einem Superzeichen, und dieses zerfällt nun wiederum, doch nach einem anderen Prinzip als demjenigen, wonach es gefügt wurde. Aus diesem Verwandlungsprozess gehen ein großes Quadrat und ein Achsenkreuz hervor. Dieses in eine strenge Form gekleidete Bildgeschehen wird nicht durch ein abstraktes Programm initiiert, wenn auch die Darstellungsweise, das heißt die schrittweise Verwandlung der einfachen Grundelemente, diesen Eindruck erweckt. In freier und ungezwungener Art entwirft Hildegard Joos solche gestaltbildenden Vorgänge und gibt ihnen das Aussehen eines folgerichtigen, einem ,,letzten“ Prinzip gehorchenden Geschehens.
Auf dieser zunächst formal strengen Basis entwickelt sich in der Folge ein unbeschwerter, fröhlicher Umgang mit einem immer differenzierter werdenden, zeichenhaft geometrischen Formenvokabular. Mit einem schier unerschöpflichen Erfindungsreichtum entsteht eine Bildwelt voll Witz und Ironie. Die mit einfachsten Mitteln in Szene gesetzten Formbildungs- und Formauflösungsvorgänge erwecken den Eindruck von interpretierbaren Assoziationen. Tatsächlich entziehen sie sich aber jeglicher Deutung. Dieses scheinbare Geschehen vollzieht sich in einem mit subtilsten malerischen Mitteln gestalteten illusionistischen Bildraum.
In diesen Werken erreicht die Spannung zwischen einer ungebundenen schöpferischen Phantasie als bewegende Kraft im ,,Leben der Formen“ und einem quasi systematischen Verfügen über das geometrische Vokabular einen Höhepunkt. Im Rückblick auf das Gesamtwerk von Hildegard und Harold Joos zeigt sich, dass es den beiden Künstlern am Beginn der achtziger Jahre gelungen ist, auf ihrem frühen malerischen und späteren geometrischen Schaffen aufbauend, ein künstlerisches Konzept voll Innovation und jugendlicher Aktualität zu entwickeln.