Irena Racek

Sonderpreis
Grenzüberschreitende Projekte und Initiativen

Künstlerin im Weinberg

AIs ich erfuhr, daß das Werk von Irena Räcek verdientermaßen mit einem prestigereichen Preis gewürdigt wurde, empfand ich gleich doppelte Genugtuung. Einerseits der Laureatin selber wegen, deren Schaffen über seine Vielfältigkeit hinaus immer auch vom Bemühen zeugt, scheinbare und wirkliche Grenzen zu überwinden, und andererseits, weil das Gleichnis, zu dem mich diese niederösterreichische Künstlerin mitteleuropäischen Formats in der Vergangenheit anregte, nicht aufhört, Gestalt anzunehmen. Obwohl Irena Racek im lieblichen Sitzendorf lebt und arbeitet, habe ich ihre wahre Sendung erst in Retz verstanden. Es war im Jahre 1993, als die Künstlerin in den Kellergewölben der Stadt ausstellte. Retz liegt bekanntlich an der Grenze des Weinviertels und des Waldviertels, also dort, wo die Weinberge bei einem Wald enden, in den sie mit ihren gierigsten Ausläufern unaufhaltsam vordringen. Als würden sie nicht nur den Wald, sondern geradezu die Welt berühren. Oder als würden sie selbst unsere irdische Welt repräsentieren. Mir war sofortklar, daß Irena Räcek aufdiesem geoffenbarten ,,Weinberg Gottes“ als ,,künstlerische Arbeiterin“ arbeitet. Damit endet das Gleichnis aber nicht. Während Retz horizontal gesehen das Bild des allgegenwärtigen Weinberges ist, stellt es vertikal das traditionelle Dreistufenmodell der Welt dar. Unter dem Himmel der Kunst und den schöpferischen Weingärten befindet sich ein für die „archäologischen“ Werke der sinnreichen Künstlerin, die von heidnischen Mythen bezaubert ist, wie geschaffenes Kellerlabyrinth. Ähnlich wie Irena Ra&ek stand einst Matthias Corvinus vor den Toren von Retz. Ein flüchtiger, jedoch um so inspirierenderer Blick auf die üppige Umgebung dieses äußersten Zipfels der Weingegend genügte ihm, um daraufzukommen, wie er die Stadt unblutig erobern könnte. Unverzüglich bot er den nicht ausgelasteten Winzern einen raffinierten Tauschhandel an: Wenn sie ihn in die Stadt ließen, würde er ihnen das „Know-how“ des Weinhandels zur Verfügung stellen. Und tatsächlich, kaum hatte sich Corvinius in der Gemeinde häuslich niedergelassen, brach eine goldene Ära für den Export der trockenen Retzer Weine an. Dank der eigennützig zur Verfügung gestellten Adressen gingen die Geschäfte der einheimischen Winzer so gut, daß sie die ursprünglichen Hauskeller allmählich erweitern mußten, bis sie die Gestalt des heutigen unterirdischen Labyrinthes annahmen. Unsere Künstlerin mußte den Retzer Weinhauern nichts versprechen. Die erweiterten Keller warteten schon auf ihre „heidnische“ Kunst. Blieb nur, die Corvinus’sche Gelegenheit beim Schopf zu packen, in die Gewölbe unter den Weinbergen hinabzusteigen und dort ihre mythischen Gemälde aufzuhängen. Es soll nicht unerwähnt bleiben, daß alle dort ausgestellten Bilder verschimmelten. Gaia, Urmutter Erde, nahm sie zu sich. Die Künstlerin der Weinberge hat einfach eine Leidenschaft für die Mythologie keltischer, germanischer und slawischer Landschaften. Als würde sie unaufhörlich Exkursionen in alte Welten unternehmen oder überhaupt den aus Mutter Erde ausgegrabenen Boten untergegangener Zivilisationen künstlerische Herberge bieten. Wenn sich in ihrem Werk eine Figur abzeichnet, dann meist keine menschliche, es ist eine göttliche, und sie bewahrt die Linien der Handschrift alter Ausgrabungsobjekte. Manchmal ist die figurale Form nur durch das einem nicht existierenden Körper übergezogene Gewand angedeutet. Das gilt auch für den nur scheinbar anthropomorphisierten, in Wirklichkeittheomorphisierten Weinstock. Es war daher keine Überraschung, als die couragierte Künstlerin das Projekt einer riesigen, an eine heidnische Göttin gemahnenden Weinrebe entwarf. Die gewaltige Weinpflanze sollte einen der häßlichen Silos verdecken, die stellenweise die niederösterreichische Landschaft verunzieren, -und dadurch das betroffene Land optisch veredeln. Die Sendung Irena Raceks ist aber nicht nur die optische Verschönerung unseres faden Lebens. Sie kam aus Mähren nach Österreich und ließ sich gleich hinter der Grenze nieder. Ihr ganzes Leben als Künstlerin arbeitet sie daran, diese Grenze zum Verschwinden zu bringen oderwenigstens zu bewirken, daß sie nur als Katastergrenze, als den Grundriss einer Gemeinde festlegende imaginäre Linie verstanden würde. Die Mitteleuropäerin Irena Räk ist eine Slowakin, die in Böhmen und Mähren aufwuchs und in Österreich lebt. Ihre Dreisprachigkeit und das nacheinander folgende Erlebnis mehrerer Heimatländer prädestiniert sie direkt zur Suche und Pflege eines Dialogs, der bestätigt, daß es sich um lauter Nachbarn in ein und demselben Kulturkreis handelt. Die Wertschätzung der lebenspendenden und inspirierenden Region ist für sie entschieden kein Hindernis, zum Universellen zu streben. Es ist kein Geheimnis unter Kunsthistorikern, daß Irena Räek nicht nur die Grenze des Weinviertels und Waldviertels, nicht nur die Grenze zwischen Niederösterreich und Südmähren überschreitet, sondern auch ihre mitteleuropäischen Ambitionen erfolgreich realisiert, und zwar nicht nurals bildende Künstlerin, sondern auch in der Rolle der Initiatorin von Veranstaltungen, die allgemeine Geltung haben. Stichprobenartig erinnere ich an die Sitzendorfer „Kulturtage“,an ein Schulprojekt mit den Gauguin‘-Sehen Fragen ,,Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wer bin ich?“ im Titel oder an das Projekt „Im Zeichen des Kreises“, bei dem die verschüttete Chiffre neolithischer Kreisgrabenanlagen Interessierten keineswegs zur Rekonstruktion angeboten wird,
sondern zurErschließung durch eine stilisierte künstlerische Form, die graphisch an uralte,ornamentale“ Bräuche anknüpft. Die Künstlerin war einfach daraufgekommen, wie sie in ihrem Werk die untergehende Harmonie erneuern konnte-im Glauben, daß die von Archäologen freigelegten Schichten ihre phylogenetisch bedingten Äquivalente im Unbewußten besäßen, die bis zu den Uranfängen reichen. Dann mußten die ausgegrabenen Reste nur mehr kunstvoll zum transformierten ,,Weinstock“ stilisiert werden, hinter dessen äußerer bildnerischer Optik jene wahre
heidnische Landschaft erahnt werden kann. Nur so gewinnen die wirklichen Weingärten, von denen die Künstlerin umgeben ist, den allgemein gültigen Sinn des metaphorischen ,,Weinberges Gottes“, aufdem man freudig den künstlerischen
Aufenhalt zu absolvieren hat. Nur so kann die Region in die umliegende Welt übergreifen. Als Illustratorin für Kinderbücher hat Irena Räek die Welt schon längst erobert. Das beweisen zahlreiche Einladungen zu internationalen Ausstellungen von
Kinderbuchillustrationen von Italien bis Japan. Aufdiese Weise hat sich die Autorin seit dem Jahr 1974 vorausblickend ihre kindlichen Leser erzogen, die inzwischen groß geworden sind und die Gemeinde jener erweitern, die ihre Kunst für Erwachsene
schätzen.Dank des Schaffens von Irena Ra&ek, ihrer ,ästhetischen Ausgrabungen“ und ihrer künstlerischen und pädagogischen Projekte stellen wir erfreut fest,
daß die Länder und Gegenden Mitteleuropas einen archäologisch begründeten und künstlerisch verdeutlichten gemeinsamen Nenner haben. Kulturell orientierten ,Zählern“bietet sich so die Möglichkeit – und eigentlich Notwendigkeiteines echten Dialogs an.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 2001