Der Mann mit der Kamera
Die einzige Schrifttafel, die wir in Dziga Vertovs wegweisenden Stummfilm „Chelovek s Kinoapparatom“ von 1929 zu sehen bekommen, teilt uns mit, dass dieser Film eine internationale, absolute Kinosprache schaffen will, basierend auf der völligen Unabhängigkeit von der Sprache des Theaters und der Literatur.Völlige Unabhängigkeit, Freiheit: Joerg Burger bezeichnet sich selbst als „Freischaffenden Künstler, Filmschaffenden und Kameramann“ – frei schaffend also vor allem. Das Bestreben, sich frei zu halten von den industriellen Zwängen der Bilderproduktion, sei es als Fotograf, Kameramann oder Dokumentarfilmer, auch um den Preis ökonomischer Nachteile, zieht sich durch Joerg Burgers Biografie und machte aus ihm einen Meister der Ökonomie: im Ästhetischen, im Erzählerischen, im Abbildenden.Auf die Spitze trieb Joerg Burger diese Ökonomie im Film „Moscouw“ (2001), dem „Porträt einer anwesenden Abwesenden“ (Dominik Kamalzadeh), der Künstlerin Michäla Moscouw, die Joerg Burger nur eine Tonbandaufnahme von ihr gestattete, da sie niemandem außer sich selbst das Abbilden der eigenen Person zugesteht. Bei der internationalen Premiere am höchst renommierten Dokumentarfilmfestival „Visions du réel“ in Nyon wollte der Applaus nicht enden – zu recht. Eine derartige Befähigung zum Sichtbarmachen des Entschwindenden war die Voraussetzung dafür, ein Meisterwerk wie „In Wirklichkeit ist alles ganz anders“ (2004), das Porträt des Filmemachers Wilhelm Gaube, zu schaffen. Wilhelm Gaube, der Porträtist und das Medium mehrerer Generationen österreichischer KünstlerInnen, der nie selbst vor der Kamera stehen wollte, wird von Joerg Burger in diesen und durch diese Porträts selbst sichtbar gemacht, ohne ihm sein Geheimnis zu nehmen. Eine schönere Reverenz erwies ein Schüler und langjähriger Begleiter einem Stillen und Großen seines Faches, wie es Wilhelm Gaube ist, selten. Von diesem Respekt gegenüber dem „Protagonisten“ eines Dokumentarfilms ist auch das jüngste Werk geprägt, „Unter Beschlag“ (2007), in dem Joerg Burger die Geschichte eines Schiffsingenieurs erzählt, der sich aufgrund eines Versicherungsstreits seit mehr als sieben Jahren genötigt sieht, ein nicht mehr seetaugliches Schiff im Hafen von Neapel völlig alleine besetzt zu halten, um seine Ansprüche nicht zu verlieren. Fast sieht es so aus, als würde Joerg Burger mit diesem Film einen neuen Ton anschlagen, politischer als alle früheren. Dabei könnte er aus einer reichen Erfahrung als Kameramann und „editor“ – Joerg Burger verwendet für den Filmschnitt den viel umfassenderen Begriff der Montage – bei Filmen anderer schöpfen, denen er zu einer überzeugenden Ausdruckskraft verhalf: etwa „Wen die Götter lieben“ (Johannes Holzhausen 1992“) oder „Artikel 7. Unser Recht“ (Thomas Korschil/Eva Simmler, 2004). Die Basis dieser Aktivitäten ist seit 1994 „navigatorfilm“. Vor und neben seinen Filmen entwickelte Joerg Burger seit 1985 ein fotografisches Œuvre, zuerst gemeinsam mit Walter K. Mirtl („Ward“) anfangs auch gemeinsam mit Andrea Ogris, das ihm nicht weniger Anerkennung brachte als sein filmisches. Als Mitarbeiter der Fotogalerie Wien schon in ihrer Pionierzeit in den 1980er-Jahren und in den 1990er-Jahren in der Abteilung für Audiovisuelle Medien im Museum Moderner Kunst in Wien hinterließ er seine Spuren auch im Galerie- und Museumswesen. Dass Joerg Burger eigentlich Architektur studierte und seine audiovisuelle Ausbildung auf zwei Semester bei Peter Weibel beschränkte, muss in einer Würdigung erwähnt werden. Scheint er sich doch hier das Rüstzeug geholt zu haben für die unvergleichliche Tektonik seiner Bilderwelten und die mediale Komplexität seiner so einfach anmutenden audiovisuellen Sprache, die auch weiterhin ihre freischaffende Unabhängigkeit behaupten wird.