Begangene Wege und noch nicht geschlossene Kreise
Es ist ein neues Künstlerinnen- und Künstler-Bild, das Johanna Kandi vertritt: weitab vom ,,einsamen Wanderer im Nebelmeer“, der fernab der Gesellschaft nächtlich im Studio ein geniales Meisterwerk strategisch konzipiert. Die letzten postromantischen Tendenzen einer männlich bestimmten Suche nach dem unverwechselbaren Stil und der großen Geste innerhalb einer Avantgarde sind im Auslaufen. Seit den sechziger Jahren hat sich in Schritten eine aktuellere Kunstauffassung entwickelt – eine dem Menschen zugewandte, auch im Teamwork entstehende, oft nur minimale Intervention im öffentlichen Raum, in selbstverständlicher Einheit von Kunst und Nichtkunst, Abstraktion und Gegenständlichkeit, Praxis und Theorie, Kunst und Leben und Wort und Bild. Neue Erzählformen sind entstanden, neue individuelle Mythologien und Geografien.
,,Soziale Plastik“ bedeutet in der Generation nach Beuys – Johanna Kandi ist 1954 geboren und besuchte 1972-80 die Akademie, just zu der Zeit als Beuys an der Angewandten und der Galerie nächst St.Stephan zuweilen auftrat – nicht mehr die mythenbildende Künstlerinnen- oder Künstlerfigur in den Vordergrund zu stellen, sondern die Erweiterung der künstlerischen Felder, im Sinne eines Werks ohne Weiheraum, zu betreiben. Die Preisträgerin hat ihr künstlerisches Blickfeld vor allem auf die im Westen und in Mitteleuropa viel zu unbekannten Länder hinter dem ehemaligen ,,Eisernen Vorhang“ gerichtet: Sie unternahm Reisen nach Ex-Jugoslawien, Russland, Ukraine, Tschechien, Rumänien, Aserbaidschan, Polen, Georgien und Litauen.
Begonnen hat die Untersuchung der verschiedenen Bedeutungen von Grenzen in Niederösterreich, wo Johanna Kandi auch zum Teil lebt. Sie hat in ihre frühen ,,Naturstudien“ in giftig oranger und doch Trompe l’oeil-hafter Grisaillentechnik die russischen Denkmäler dieses Bundeslandes gemalt, fortgesetzt hat sie mit einer Art soziologischen Studie in der alteingesessenen Firma Grundmann, mit Hilfe eigener und von den Arbeiterinnen und Arbeitern geliehenen Fotografien, die in der Festschrift zum hundertjährigen Bestehen wie in einer Installation im Gobelinsaal der Oper Ausdruck fand. Weitere Aktivitäten dort in den letzten Jahren waren ,,Gehen, einfach einen Weg gehen“ und ,,Auf der Insel Bella Lella“. Kunst ermöglicht dabei aufgehobene Grenzen und demokratische Utopien in einem persönlichen Umgang mit der Erinnerung. Wissenschaftliche Untersuchung, Sammeln von Artefakten, Konzept und sanfte Animation bis performative Praxis verbinden sich zu einer „individuellen Geografie“. Das Konzept der Natur (der Dinge) bleibt a priori sozial, Kandi selbst bleibt dabei immer am Rande oder zieht sich bis zur fast-Unsichtbarkeit zurück.
Die Reiseprojekte in die Oststaaten haben immer über persönliche Kontakte funktioniert, jegliche Differenz, jegliche Ausländerfeindlichkeit durch anhaltendes Fremdsein wurde damit unterbunden und überwunden – Kunst ist dabei schneller als die ,,Politik der kleinen Schritte“. Fotografische und schriftliche Tagebücher der Reiserlebnisse (dabei sind viele Sequenzen auch von ihrem Mann Helmut Kandi aufgenommen) werden nach der Rückkehr verbunden und als Kombination in Malerei übertragen. Dieses ,,immer noch malen“ ist ein wesentlicher Aspekt in der Arbeit der Künstlerin, denn der Verlangsamungseffekt macht aus dem Schnappschuss ein Historienbild oder zumindest eine Genreszene. Die Verfremdung basiert auf der „gestundeten Zeit“ (I. Bachmann) und lässt den Betrachter einen Standpunkt jenseits der Tagesaktualität erkennen. Denn die Künstlerin konfrontiert in realen Bildern eines ,,narrativen Realismus“ (der durchaus als Anspielung auf den historischen ,,sozialistischen Realismus“ gesehen werden kann), Menschen in ihrer Umgebung mit verstörenden Floskeln aus Zeitungsschlagzeilen und einer globalen Wirtschaftssprache, die jeglichen Bezug zum Menschlichen verloren hat. Diese kalte ökonomische Sprache zeigt in den Bildern der Malerin auf, wie brüchig die Eliten des westlichen Kapitals sind. Die Montage ist hochpolitisch; sie verweist auf die ethischen Verschiebungen in Fragen von Gemeinschaft und gibt die Möglichkeit einer „zweiten Option“. Auf den Mut und die Zivilcourage der Preisträgerin muss im Zusammenhang mit dem Projekt „Der Kreisist noch lange nicht geschlossen“ hingewiesen werden, das als zweitägige Installation 1995 am Burgtor (Heldenplatz Wien) möglich war. Natürlich entsprachen ihre aktuellen Inhalte, die auf den Abzug der russischen Truppen aus der ehemaligen DDR und deren soziale Probleme in der Heimatvon Moskau bis Aserbaidschan in den Jahren nach 1989 abzielten, nicht den Intentionen einer Arte memoria nach Muster der österreichischen Innen- und Verteidigungsministerien. Trotzdem hat es die Künstlerin geschafft, vorübergehend das nationale Denkmal Burgtor in einen globalen Ort der Diskussion zu wandeln.