Johannes Kammerstätter

Erwachsenenbildung
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Hinschauen statt verdrängen

Johannes Kammerstätter liebt die Menschen. Wenn er genau hinschaut, dann deshalb, weil er die Geschichte eines Landes und einer Region stets als Geschichte der Menschen versteht, die hier leben oder einst gelebt haben. Was sie und ihre Vorfahren erlebt haben, wie sie es bewältigt haben oder davon überwältigt wurden, wirkt weiter in den Kindern und Enkelkindern.

Als Psychologe kennt er die Macht verdrängter Schuld, als Christ die Berufung zur Nächstenliebe. Deshalb glaubt er nicht, dass alles so kommen musste, wie es kam. Die vergessene Geschichte unseres Landes, insbesondere des Mostviertels, zu erzählen, ist ihm zu einem Herzensanliegen geworden.

Seine Aufarbeitung der Ermordung und Vertreibung der jüdischen Mitbürger*innen im Mostviertel ist eine herausragende Leistung. Dabei bleibt er bei den Menschen – bei den Schicksalen der jüdischen Familien, die er penibel recherchiert, bei den Verbrechen, die an ihnen begangen wurden. Er würdigt die viel zu wenigen „Gerechten“, die Widerstand geleistet haben, und analysiert, wie der bereits vor 1938 vorhandene Antisemitismus das Umfeld für diese Verbrechen vorbereitet hat.

Mit dem Projekt Tragbares Vaterland hat Kammerstätter den jüdischen Gemeinden im Mostviertel und ihren vertriebenen Mitgliedern ein bedeutendes Denkmal gesetzt. Doch er beließ es nicht beim Recherchieren und Publizieren. Er bezog seine Schüler*innen aktiv in das Projekt ein, um gemeinsam die Namen, Schicksale und Kontakte zu Überlebenden weltweit ins Mostviertel zurückzutragen und ihnen ein sichtbares Andenken zu schaffen.

In zahlreichen Vorträgen, unter anderem für das Katholische Bildungswerk, erinnerte er daran, dass die Jahre 1938–1945 Österreicherinnen zu Täterinnen und Mitwisserinnen, zu Opfern und Widerstandskämpferinnen machten. Dabei geht es ihm nicht nur um Fakten, sondern auch um die Tabus und Geheimnisse in familiären Erinnerungen. Denn davon ist Kammerstätter überzeugt: Erst die Aufdeckung und Bewusstmachung familiärer Traumata ermöglicht es, aus der Geschichte zu lernen.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 2020