Jutta (Julian) Schutting

Literatur

Am Brandungswall der Rosenströmung

Es mag Anfang 1970 oder 1971 gewesen sein, als ich zum erstenmal Gedichte von Jutta Schutting im Manuskript kennenlernte. Sie hatte sie beim Österreichischen Rundfunk eingereicht, und ich erinnere mich noch genau der Faszination, mit der ich damals diese Verse las: ,, … du bringst mir einen Kiesel und sagst du, ich glaube, da ist eine Taube drin, ich nehme ihn in meine Hand, und wir gehen zum Fluß und suchen die Welle aus, die der Taube die Freiheit gibt – und die Taube ist das Gedicht, in dem du enthalten bist; und du bringst einen Kiesel, nicht wesentlich größer, sagst du, da ist eine Quelle drin; und wir suchen Kiesel, die deinem gleichen, und legen sie als Kette durch die Wiese; und sobald wir die Verwandtschaft von Tauben und Quellen entdecken und sooft wir das richtige Bild für ihre Bewegungen finden, durchquert eine Quelle den Garten, und aus dem ersten Kiesel, verwahrt in deiner Hand, steigt, ins Wasser gehalten, noch eine Taube auf und rastet auf der höchsten Säule der Quelle wie der Ball, der die Worte sind, mit denen du spielst…“ Der Taube im Kiesel die Freiheit geben – und die Taube ist das Gedicht, in dem du enthalten bist – das war wirklich ein neuer Ton in der österreichischen Dichtung. Ein Mensch, fühlte man, war da auf der Suche nach einem Paradiesbeet in dieser Welt, das Gedicht wird zur Psalmodie. Mythos und Realität sind seltsam zur Deckung gebracht, das Vertraute wandelt sich in Fremdes und Befremdendes, aber auch im Befremden stellt sich die Dichterin der Wirklichkeit. Geboren wurde Jutta Schutting am 25. Oktober 1937 in Amstetten. Als Beruf übte sie den einer Mittelschullehrerin aus. Aber man spricht nicht aus, wer sie ist, indem man sie ihrem Meldezettel gemäß vorstellt. Es geht ihr um die Wahrhaftigkeit des Inkommensurablen, um die Zeit, die man nach innen lebt. Jutta Schuttings Poesie gedeiht aus einem unablässigen herzhaften Denken. Ihre Neigung zur Meditation und ihre starke Sinnlichkeit hindern sie aber nicht, scharfe Begriffe zu bilden. Um den Meditationskern gruppieren sich Kurven und Arabesken zum Spiel einer ,,verschränkten Geometrie“: ,,die Tastspur dient der Pilgerschaft des Mondes ich preise die Tauben, noch Wolken, die einst dich beziehn die Schmetterlingssuche verheißt deine Wangen ich küsse die Spur deines Traums vor deinem Entstehn mein Ruf erstickt die Trommel der Zikaden aus einer Rose sickert Blut und jede Sehnsucht tauft in deinem Namen“ beginnt eines ihrer schönsten Gedichte, und in einem anderen heißt es: ,,der Engel nimmt die Rose zwischen die Flügel das spielt ihr seine Wünsche zu, er ist die Luft in ihren Träumen und die Sehnsucht der Rose glaubt seine Bewegtheit zu sein und wo ihr Widerstand in den Schlaf fällt, beginnt sie aufzublühn…“ In rhythmisch gebundenen, bald sich verschlingenden, bald sich voneinander lösenden Traumreihen wird das Wirkliche, und das heißt: das bewirkende beschworen und zur gleichen Zeit damit das Unsägliche, als innerster Kern des Mysteriums. So wird, im Sinne Kerenyis, im Geschehen des Mythos das Seinsgemäße menschlich, das Menschliche seinsgemäß. Das Wort in Jutta Schuttings metaphorischen Gedichten nehmen an einer geistigen Wesenheit teil. Sie hungern nach Schöpfung. Die Klanggebärden sind organisch gegliedert. Düfte, Farben, Formen werden einem melodisch orientierten lndividualbewußtsein (das zugleich das Bewußtsein des Ganzen ist!) dienstbar gemacht und in Musik verwandelt, in eine Musik, die auch die absolute Linie als selbständige Ausdrucksgestaltung anerkennt:,,ein Musikstück in der Tulpentonart für dich: das diatonische Wachsen des Blättermotivs, die Stimmführung der Narzissen; zuerst die Lilienquart, dann der chromatische Duft der Anemonen Auflösung des Reifes – erster Satz – im vivace der Feuerlilien die um eine Tulpe verminderte Terz (das ist die Spanne Narzissen-Anemonen) die Quint – der Bogen des Schmetterlings zwischen zwei Rosen…Und dann der herrliche Schluß: ,,sei in der Tulpenfuge die Tulpenwange am Tulpenblatt, und geordnet sind alle Töne“ Worte werden bauend zusammengefügt, das Wortkunstwerk wird zur Fuge. Das Halluzinatorische im Sprach-Element wird ebenso genützt wie seine assoziative Potenz. Aber noch der gewagtesten abstrakten Wort-Geometrie Jutta Schuttings liegen durchaus konkrete Vorstellungen zugrunde, mitunter sogar physiologische, etwa solche der Richtung wie ,,von außen nach innen“, ,,mirwärts und dirwärts“. So bleibt ihre phantastische Metaphorik luzid, Unwirkliches wird Tatsache, die Gleichnisse rücken so eng zusammen, daß sie eine einzige Kette bilden. Mit Lyrik im herkömmlichen Sinne hat das natürlich nichts mehr zu tun. Da ist nichts mehr sangbar, nirgends eine Übersetzung des Lebens ins Lied, nirgends ein festes Versschema. Das Denken und die Sinne träumen sich aus, und der Traum gleitet über die Klaviatur von Analogien, Akkorde anschlagend. Wird, so mag mancher fragen, durch das intellektuelle Wissen, das hinter vielen dieser Verse steht, nicht das Dichterische gefährdet? Wird nicht jede Spontaneität dadurch verhindert? Wird hier die Kunst nicht zu einem Punkt geführt, wo sie zwar zur Welt aufruft, aber selber nicht mehr Welt enthält, wird hier nicht das Lebensbrot durch ein zwar glänzendes, aber doch trügerisches Midas-Gold eines gewiß imponierenden, aber am Wesen doch vorbeidenkenden Fachwissens ersetzt? Wer so argumentiert, sollte das Wort Kleists bedenken, daß es heute vielleicht des Genusses des Apfels der Erkenntnis bedarf, um wieder in den Stand der Reinheit zu gelangen. Und im übrigen gibt es auch bei Jutta Schutting Gedichte, die von einer ganz persönlichen Betroffenheit zeugen, Verse, die aus subjektivstem Erlebnis gereicht werden wie die herrlichen „Liebesgedichte“ aus dem Jahr 1982. Alle ihre Gedichte stehen im Banne eines metaphysischen Denkens. Mit innerem Recht hat Ernst Schönwiese, der zu dem ersten Lyrikband Schuttings, ,,In der Sprache der Inseln“, ein Nachwort schrieb, darauf hingewiesen, daß in einem Gedicht wie ,,Rose, Gesicht am meinem“, Musils „anderer Zustand“, gleichzeitig aktiv und passiv, als Versenktheit der Versenkung in sich selbst, spürbar wird, – „wie Jutta Schutting überhaupt jene echten Gedichte schreibt, die das provozieren, was zum Erreichen des anderen Zustandes führt“. Von allem Anfang an hatte Jutta Schutting, auch darin ,,gegenbildselig“ – auch Dichtungen in Prosa geschrieben. ,,Baum in O.“ erschien 1973, ein Jahr später legte sie ,,Tauchübungen“ vor. Nicht nur wegen ihres autobiographischen Charakters wegen wichtig ist die Erzählung „Der Vater“. Nach der telefonischen Mitteilung der Mutter, daß der Vater gestorben sei, folgt die präzise Schilderung der Schmerzangst und die analytische Beschreibung einer bedrückenden und trotzdem herrlichen Vater-Tochter-Beziehung, wobei an entscheidenden Stellen der erzieherisch erzwungene Verzicht auf persönliche Vorlieben, etwa eine frühe Sammelleidenschaft und auf erste Neigungen angedeutet wird. Das Bild des Vaters, dem auch tyrannische Züge anhaften, wird weder verschönernd noch mit radikaler Aggressivität gezeichnet. Aber gerade weil die Dichterin sich müht, die unentstellte Wahrheit wiederzugeben, wird das Ausmaß ihrer inneren Verletztheit deutlich. Doch so viel auch an unausgesprochener Qual in der Tochter zurückbleibt, wird sie zum Fürsprecher des Vaters. Schon vorher waren unter dem Titel „Sistiana“ Erzählungen von Jutta Schutting erschienen, es folgte ,,Der Wasserbüffel“ (1981), „Am Morgen vor der Reise – Die Geschichte zweier Kinder“ (1981) und ein Buch mit Betrachtungen: ,,Das Herz eines Löwen“ (1985). Mit einer bestürzenden Sachlichkeit werden Erlebnisse und Eindrücke geschildert, gerade durch diese Sachlichkeit, aber auch die Zuwendung der aktiven Ich-Besetzung zu bestimmten Handlungen- auch in der ironischen Ausdeutung – offenbar. Manche der oft parabelhaften Stükke sind von einer grausamen Härte und lllusionslosigkeit: das erste Stück, beispielsweise, in dem der Besuch der historisch-medizinischen Sammlung im Josephinum beschrieben wird. Zugleich wird aber auch die „Traumverwunderung“ freigelegt, daß allen diesen dinglich Toten lebendig gewesenes Totes Modell gelegen hat. Ergriffen erfährt die Dichterin die klare Vision von der inneren Beschaffenheit des idealen Körpers. Wie in keinem anderen ihrer Bücher gibt sie in diesen Betrachtungen auch den Blick auf ihre Werkstatt frei, spricht sie ihr menschliches und künstlerisches Credo aus. Kunst wird als das Innehalten der Zeit verstanden. Im ,,Märchen vom Kaiser“ wird vor der Unterschätzung der Natur zugunsten der Kultur und des Künstlichen gewarnt. Fast auf jeder Seite finden sich Einsichten von hoher Relevanz: über das Wesen des Kitsches, den Dilettantismus, die Monomanie des Künstlers und die mehrfach zu unterstreichende Überzeugung, daß die Kinder die eigentlichen Dichter sind, ,,solange ihr Vertrauen zu den Wörtern die Welt verändert“. Um die Kunstauffassung Jutta Schuttings zu verstehen, muß man aber auch ihren „Liebesroman“ (1983) heranziehen, in dem sie betont, daß Liebe und Kunst einen Ursprung haben. Mit dem Titel deutet die Dichterin wohl darauf hin, daß sie einen Modellfall bezeichnen wollte, obwohl das Thema des Romans eine Liebe ist, die so hybrid geworden ist, daß nur in ihr Existenz überhaupt noch möglich ist. Wie die Elemente der Ideen und Eindrücke miteinander korrespondieren, zeigt der Gedichtband ,,Traumreden“ (1987). Er enthält nachtschattige und phosphoreszierende Verse über Zwei- und Einsamkeit: ,,Liebe ist, was im Schlafen wachbleibt und jeden Tag neu erwacht.“ Hochsommerrosen und die Grabmale der Medici, Erfahrungen von Reisen sind in diese Verse eingegangen, die Wirklichkeit rüttelt an ihnen, und die meisten sind voller Musik, weltferne und deshalb auf paradoxe Weise weltnahe Kontemplationen, ein ,,Horchen nach Aufrührbarkeit einer Stille“, nach einer Musik, in der alle Liebe gewesen ist, eine Neige Traum sind sie und ein Tropfen Öl, Falter, gespannt aus Mondlichtworten“, Traumerhellungen, Bilder, die nichts sind als ein Bild ihrer selbst und damit alles, Umhüllungen, aus denen die Wahrheit tritt. Die Welt der Körper geht in die Figur über, jedes Wort im Gedicht ist nun wirklich ein ,,Synonym für Botschaft“, Poesie eine mystische Geometrie.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 1988