Künstlergruppe Gelitin

Bildende Kunst
Image

Grenzerfahrungen

Die international agierende Künstlergruppe Gelitin ist laut Eigendefinition «eine formlose, sich ständig in Bewegung befindliche Masse». Seit 1993 produzieren und präsentieren Wolfgang Gantner, Ali Janka, Florian Reither und Tobias Urban unter dem Namen Gelatin, heute Gelitin, bei verschiedenen Ausstellungen, Aktionen und Interventionen mit stets wechselnden Gästen, Mitarbeiter(inne)n und Künstler(inne)n und verweigern sich damit dem Bild des einzigartigen Kunstgenies. In einer kritischen und subversiven Aneignung vorgefundener räumlicher Gegebenheiten, Klischees und Bilder spielt die Einbeziehung des Betrachters – ebenso wie der Zugriff auf den eigenen, männlichen Körper – einen wesentlichen Schwerpunkt ihrer Arbeit. Dass sie damit nicht selten auch Skandale evozieren, entspricht nicht ihren Inten tionen. Viel mehr stehen die Grenzerfahrung durch den Betrachter, das Überführen seiner eigenen Körpererfahrung in einen anderen Aggregatzustand im Mittelpunkt ihres vielfältigen Werks. Ihre Interventionen sind dabei nie als spektakuläre Events gedacht, sondern passieren zuweilen nahezu als beiläufige Interventionen an der Architektur. Wie die temporäre Veränderung der Fassade am Tower 1 des New Yorker World Trade Center, an die an einem Sonntag im Jahr 2000 für 20 Minuten ein Balkon eingehängt wurde, der für eine Person Platz bot. Neben der Illegalität der Aktion war auch der formale Kontrast zwischen einer Low-Budget-Konstruktion und einer technisch glatten Architekturfassade ein Schwerpunkt dieser Arbeit sowie die Errichtung eines kleinen, privaten Raums innerhalb einer Szenerie von Großraumbüros. Die fotografisch dokumentierte Aktion erhielt aufgrund der Ereignisse 2001 eine neue, nicht intendierte Bedeutung. Das Vertrauen des Benutzers und seine für das Erleben der künstlerischen Arbeit notwendige Selbstüberwindung sind dabei stets Teile des künstlerischen Konzepts, ebenso wie die damit verbundene Einbeziehung des Publikums. Es wird als Benutzer und Betrachter Teil der Arbeit oder unversehens zur helfenden Hand wie in «the dig cunt». An sieben Tagen im Mai 2007 fuhren Gelitin jeden Morgen, «getrieben von der Suche nach einem Loch», in einer sich täglich wiederholenden Aktion mit dem Zug nach Coney Island. Ausgerüstet mit Schaufeln und «einem Geist, ruhig wie Sandkörner», verbrachten Gelitin Stunden am Strand damit, ein Loch zu graben, nur um dieses am Abend wieder zuzuschütten und nach Manhattan zurückzufahren und am nächsten Morgen erneut nach Coney Island aufzubrechen und wieder zu graben. Zum Spiel mit der Überwin dung der ei genen Grenzen kommt mitunter auch jenes mit den Erwartungen des Betrach ters. Ob er in der Arbeit «Weltwunder» bei der Expo 2000 die vermeintliche Sensation erst durch einen Tauchgang entdecken konnte oder sich im Schlammsaal im Kunsthaus Bregenz 2006 «in der Kindlichkeit der Lust suhlen konnte», es obliegt dem Rezipienten, wie weit er sich vorwagt. Egal, ob man sich traut oder nicht, die eigene Emotionalität ist bereits ins Wanken geraten. Unbelastet von historischen Vorgaben, setzen Gelitin damit herkömml iche Betrachtungsmuster außer Kraft. Sie konfrontieren den Betrachter unerwartet mit neuen Bildern, die dieser, selbst in der Gegenwart gefangen, nicht einordnen kann. Vor allem dann, wenn sich diese an öffentlichen Plätzen einer repräsentativen Funktion nicht nur verweigern, sondern eine neue visuelle Philosophie verorten und damit tradierte Konnotationen offenlegen. Ihre Objekte sind zumeist aus gefundenem Abfallmaterial in handgearbeiteter, exklusiver Secondhandverwertung. Ihre Arbeit ist dabei nie ohne Witz und Ironie, und so kann es passieren, dass man im Piemont auf einer Bergkuppe unerwartet auf einen überdimensionalen Hasen trifft, «as knitted by a giant’s grandmother, to make you feel like a small daisy».

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 2008