Kurt A. Schantl

Literatur

Phantastische Dichtung und ,,neue Wirklichkeit“

Pferde, Hunde und Aristokraten sind mit Recht auf ihre uralten Stammbäume stolz. Daher finde ich es durchaus nicht indiskret, ja ehrenvoll, den Stammbaum eines Schriftstellers vorzuweisen, insbesondere dann, wenn es sich um einen so weitverästelten Stammbaum handelt wie bei Kurt A. Schantl und der Autor selber eines seiner Werke mit dem Satz abschließt: Immer wieder werden die Menschen den Wunsch haben, Bäume zu werden. (Schluß des Hörspiels „Hainylon“, 1987, Co-Produktion ORF-Radio DRS.) Bei dieser Ahnenforschung, fußend auf den bisher erschienenen Werken des Autors, müssen wir rückläufig vorgehen. Auf den ersten Blick mag das vielleicht als eine verwirrliche Bewegungskombination von Vorn und Hinten erscheinen. Sie steht aber im Zusammenhang mit der Phantastischen Literatur, der sich Kurt A. Schantl zugehörig fühlt. Somit ist bereits der chronologisch nächste Ahnherr gegeben: Gustaf Meyrink, der Prager Alchemist, der seine Materie nicht in Gold, sondern in Geist verwandelt. Tasten wir uns über Villiers de L’Isle-Adam zu E.T. A. Hoffmann und E. A. Poe zurück, ohne die russischen und englischen Seitenlinien Sollogub und Tolkien außer Acht zu lassen, so gelangen wir schließlich zu Johann Georg Hamann, dem Magnus des Nordens, einem der Erzväter unseres Autors. Ihm hat er zu seinem 200. Todesjahr ein sehr originelles und kenntnisreiches Feature gewidmet (Erstsendung im ORF: Sonntag, 19. Juni 1988), auf das wir noch einmal zurückkommen werden. Doch bei Hamann haben wir keineswegs ein zeitliches Limit erreicht. Noch weiter zurückliegende Bezugsgrößen werden jetzt erst sichtbar. Giordano Bruno (verbrannt durch die Inquisition 1600) mit seinem Aschermittwochsdialog und noch ein Jahrhundert früher Johannes Reuchlin dessen besondere Neigung zur Kabbala (de arte cabbalistica, 1517) Kurt A. Schantl teilt, weshalb er ein suggestives Hörspiel „De verbo mirifico“ (Hommage a Johannes Reuchlin) schaffen konnte, das vom Studio Bern produziert worden ist (1985). Aber nicht nur in diesem hermetischen Hörspiel, auch in seiner Gestaltung des Hainburg-Kraftwerkproblems hat der Autor das „Verbum mirificum“ leitmotivisch eingesetzt. Schantls gründliche Beschäftigung mit der Kabbala und den magischen Traditionen, wie sie in Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheims Werk vorliegen, verweist uns auf die Spätantike, auf den Typus des Reiseromans als Stationsdrama und Mysteriumspiel, wie es durch Lucius Apulejus auf uns gekommen ist und mit dessen Spiritus phantasticus Kurt A. Schantls bisher reifstes Werk, der Roman „Im Zeichen des Einhorns“, vergleichbare Züge aufweist. Aus dieser Ahnentafel geht hervor, daß es nur sehr wenig österreichische Schriftsteller geben wird, die in solcher Breite und Tiefe mit den hermetischen und spirituellen Traditionen der europäischen Literatur verwachsen sind. Es wäre aber grundfalsch zu mutmaßen, unser Autor wäre mit einer epigonenhaften Ahnenpflege seines Stammbaums beschäftigt oder gar durch sie völlig blokkiert. Die Tatsachen, daß er sich auf das so heikle Hainburg-Problem einläßt oder einen Roman wieIm Zeichen des Einhorns“ schreibt, der, sehr bewußt und in einem groß angelegten geistigen Konzept, zum Gegenzug gegen eine positivistisch verengte Gegenwart ansetzt, dokumentieren, daß wir hier einem Autor begegnen, dessen Aktualität nicht aus zweiter Hand medialer Information, sondern aus der unmittelbaren Tatbeziehung der Betroffenen hervorgeht: Kurt A. Schantl ist Techniker im Bereich der Burgenländischen Landesregierung. Als solcher hat er die praktischen und bildungsmäßigen Voraussetzungen, um unsere inneren psychischen und äußeren technologischen Konflikte, die wir jetzt deutlicher als je zuvor mit der sogenannten Wirklichkeit haben, in einem sehr weiten Spektrum zu beobachten und zu erleben. Zwar ist unsere Misere mit der „Wirklichkeit“ uralt. Man denke etwa an den Widerspruch von Logik und Erfahrung, den Parmenides im 5. Jahrhundert vor Christi Geburt mit einer unübertrefflichen Komik im Wettlauf des Achilles mit der Schildkröte dargestellt hat. Aber nicht nur in der politischen Geschichte, auch in der Historie der großen Gedanken behilft sich die Menschheit mit Verdrängen und Vergessen, um eingefleischte Torheiten in schöner periodischer Regelmäßigkeit wie das Seeungeheuer von Lochness hervorziehen zu können. Die Entwicklung der modernen, „nach-klassischen“ Physik, welche Schantl, wie das Vorwort zu seinem Reuchlin-Hörspiel beweist, genau verfolgt, hebt das innerhalb der Philosophie seit eh und je als Dauerkrise bewußte Wirklichkeitsproblem 170 Jahre nach Schopenhauers ,,Formulierung von der Welt als Wille und Vorstellung“ nunmehr ins Allgemeinbewußtsein einer breiten Öffentlichkeit. Sehr früh kam in Kurt A. Schantl seine Neigung für die phantastische Literatur zum Durchbruch, ein Spontanakt, der wahrscheinlich nur individualpsychologisch zur Sprache gebracht werden kann. Dieser persönlichen Zuwendung kommt eine zeitgeschichtliche Konstellation entgegen, was eine rasche und weitreichende Wirksamkeit des Werkes begünstigt. Die Wissenschaft zu poetisieren, das ist es, was er von sich und was die Epoche von nun an immer mehr von ihren Schriftstellern verlangen wird. Solche Grundsätze spricht Schantls Protagonist Georg Perg im Roman „Im Zeichen des Einhorns“ aus. In seinen frühen Erzählungen, den Arbeiten eines 25jährigen, steckt freilich noch viel „Manichäismus“, die Schwarz-Weiß-Zeichnung eines mechanistischen Weltbilds, grauenhafte Lebensmaschinerien, etwa ein von Maschinenöl lebendes Insekt, werden als Fehlgeburten eines mechanistischen Weltbilds ausgewiesen. Wenn also die Erzählung „Alfons B. Cejnars Erbe“ eine Allegorie auf unser europäisches Erbe sein sollte, so hätte diese Erzählung nur insofern ihre Berechtigung, als sie die Auswüchse populistischer Schriften der Aufklärung ad absurdum führt. Durch Newtons „Fernkräfte“ (1688), durch Kants Antinomien von Kontinuität und Diskontinuität (1788) waren am mechanistischen Modell alle Unzulänglichkeiten sehr früh, ja man könnte sagen, von allem Anfang an bekannt. Es gehört aber zum „Sturm und Drang“, in welcher Stillage er sich auch abspielen mag, Sachverhalte gewaltsam in ein Paket zu verschnüren oder sie schwarz-weiß zweizuteilen. Paul Verlaines Ruf nach „Nuance“ ist mehr als eine poetische Forderung. Es ist erstaunlich zu sehen, wie rasch unser Autor in seiner steil ansteigenden Entwicklung solche Vereinfachungen hinter sich läßt und auch ohne sie zu suggestiven Wirkungen gelangt. Nach einigen Jahren der Arbeit im Stil der phantastischen Literatur und nach eingehender Beschäftigung mit magischen und kabbalistischen Schriften verfügt Schantl bereits über so differenzierte Ausdrucksmittel, daß er das vielschichtige Konzept seines Romans erstellen und in fünfjähriger Arbeit mit sinnlicher Anschauungskraft erfüllen kann. Der Roman „Im Zeichen des Einhorns“ erzählt von einem literarischen Ausreißer, der, ähnlich wie Goethe der Verpflichtungsenge seiner bürgerlichen Existenz überdrüssig, bei Nacht und Nebel nach dem Süden durchgeht. Aber wie haben sich auf der gleichen Route und mit dem ähnlichen inneren Motor doch die Ziele in den zwei Jahrhunderten gewandelt‘ Nicht mehr Rom, nicht mehr die Klarheit der Kontur und der klassischen Stabilität ist das Ziel, sondern Venedig, dessen in Wasser oszillierende Spiegelarchitektur die Paläste an den Lagunen als Schiffe in Stein erscheinen läßt. Der moderne Literat sucht nicht die Sukzessivität der Geschichte, deren Rhythmus, die ihn zur rechten Erkenntnis und Nachfolge anleiten sollen, er strebt nach der Gleichzeitigkeit der Zeiten und der einander ablösenden Göttertypen. Erzählerisch läßt sich dieses große Simultanprojekt durch den Carneval verwirklichen. Wie ihn Schantl erlebt und darstellt, geht er aber über den sozialen oder psychologischen Rollentausch, also über die terminisierte Therapie einer Ausnahmezeit, weit hinaus. In dieser Carneval-Traumwelt werden auch die ontologischen Ordnungen aufgehoben: Pflanzen, Tiere, Gott und Mensch stehen unzähligen Metamorphosen offen. Schritt um Schritt werden in einer souterrainen Welt die Vorhöfe des Metaphysischen durchmessen: Vom Grauen, vom Entsetzen gejagt und gepeinigt, beruhigt sich die Seele allmählich, sei’s durch Gewöhnung, sei’s durch Erschöpfung, und findet im Erstaunen ihre erste Zielstation. Diese souterraine Welt erinnert auch an die metaphysischen Filme des großen russischen Regisseurs Tarkowski, was beweist, daß dieses Bedürfnis, die Grenzen des Diesseits zu überschreiten, europaweit vergleichbare Konstellationen und stilistisch ähnliche Versuche hervorbringt. Letztes Ziel dieses poetischen Entwurfes einer Gegenwirklichkeit ist das Einhorn, Symbol des Einklangs mit der Natur, in dem sich vielleicht am deutlichsten bekundet, welche Wende sich hier vollzogen hat. Kopfschüttelnd würde der Goethesche Erdgeist dieses Einhorn fragen: Warum der Wohlstand die Erbmasse verschlechtere, warum Gerechtigkeit und Eugenetik in Konflikt stehen, warum die Medizin so viel zum Krankwerden beitrage, warum die gutmeinende Verschulung immer mittelmäßigere Geister hervorbringe? Und wie man denn, bis das wundertätige Einhorn erscheint, mit diesem Bruch von Natur und Geist im Leib weiterhumpeln solle? Auch dieser ,,neuen Wirklichkeit“ stellt sich unser Autor in seinem Hörspiel „Hainylon“, wo bereits im Titel programmatisch Hainburg mit Babylon, dem Ort der Sprachenverwirrung, kombiniert wird. Die modernen Harmonisierungsbestrebungen zwischen Natur und Geist, für welche er im Roman das Einhorn als Symbol einsetzt, werden im Hörspiel in der deutschen Romantik, in dem ältesten Systemprogramm der Tübinger Universität verankert. Hier wird die zweite Stoßrichtung von Schantls Denken und Gestalten sichtbar: die Kritik an der Aufklärung. Wie ja schon Horkheimer und Adorno aufgezeigt haben, ist die Aufklärung in eine letale Krise geraten. Weil aber Wesen und Herkunft der Demokratie mit der Aufklärung verbunden sind, steht die abendländische Gesellschaft vor einem Problem, dessen Tiefe und Tragik sie bis zum Augenblick nicht wahrhaben will. Schantl aber weist darauf hin, indem er dem stabilisierenden Norm-Recht, das sich auf die Majorität gründet und durch sie absichert, die Minorität gegenüberstellt, welche gleich einem Katalysator – das Bild stammt von Schantl- Prozesse auslöst oder beschleunigt, die nach dem Norm-Recht nicht zustande kommen könnten. Zufolge Schantls Engagement für eine holistische Weitsicht hat Johann Georg Hamann als Vorläufer der Kritik an der Aufklärung so viel an innerem Gewicht bekommen, daß unser Autor ein Hamann-Feature geschaffen hat, in welchem die Entstehung von Sprache zur zentralen Frage wird. Ist sie eine Erfindung des Menschen? Ist sie eine Enthüllung aus dem Urgrund unseres Daseins? Dann aber gebührt in der Sprache dem Numinosen ein wichtiger, ja der vornehmste Platz. Im Roman ist ihm dieser Platz zuteil geworden, was beweist, wie folgerichtig sich Kurt A. Schantls Werk aus seiner Person und seinem Denken entwickelt hat.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 1988