Die Hexe von Rindlberg
Die Welt ist ein Vexierspiel Spiel groß geschrieben! und wir können jederzeit wählen, was wir wahrnehmen, was wir für wahr nehmen wollen. So lautet ihr künstlerisches Credo. „Wirklichkeit“, fragt der Hofrat in ihren ,,Damenbekanntschaften“, ,,gibt’s die?“ Wenn überhaupt, gibt es sie für Lotte lngrisch nur im Plural, und wahrscheinlich müssen wir sie fortwährend erschaffen. Der Anfang, die erste Freiheit, ist vielleicht die Freiheit der Rolle oder, was dasselbe ist, die Freiheit von der Rolle. ,,Wir möchten zugleich in der Rolle und außerhalb der Rolle sein, spielen und wissen, träumen und wachen zugleich. Und warum soll das nicht gehen? Vergessen wir Aristoteles, vergessen wir die Entweder-Oder-Logik, vergessen wir alle zu Regeln gewordenen Spiele.“ Geboren wurde die neue Kulturpreisträgerin, die siebente Dame in der 26jährigen Geschichte dieser Institution, als Tochter eines aus dem Böhmerwald eingewanderten Bäckers, dessen Leidenschaft dem Erfinden von Maschinen galt. Für seine Tochter erfand er auch die Welt der Feen, Kobolde und Geister. Mit zehn Jahren spazierte sie mit Gautama Buddha und Angelus Silesius durch die Wälder bei Moidrams. Mit elf prügelte sie sich mit ihren Schulkameradinnen im Wiener Novaragassen-Gymnasium wegen der Wiedergeburt. Und mit fünfzehn ging auf dem Josefsplatz fast die Welt für sie unter, weil sie die 50 Groschen Eintrittsgeld ins Paradies der buddhistischen Gesellschaft nicht aufbrachte. 16 Jahre war sie mit Hugo lngrisch, dem Verfasser einer dreibändigen ,,Philosophie der Vollkommenheit“, verheiratet, ehe sie sich an Österreichs Paradekomponisten Gottfried von Einern band. Mitten in der Einsamkeit des Nordwaldes, bei Großpertholz nahe der tschechischen Grenze, entdeckte die Auto-Verächterin ein verlassenes Holzfällerhaus, dessen zwei Zimmer aussehen wie die Dekoration zu einem Schnitzler-Stück. Dort wird sie nicht nur von ihrer Schreibmaschine erwartet, sondern auch von den beiden Schafen Nelly und Gülnare, dem Kaninchen Sir Alfons sowie den Katzen Mümmy, Gättchen und Sabinettchen, nicht zu vergessen den verstorbenen Kater Wui Wui, der nächtlicherweile zu spuken pflegt. Wenn man sie nicht als Autorin skurriler, giftig schwarzer Dramatik kennen würde, hielte man Lotte lngrisch vermutlich für ein Hausmütterchen, mit dem man am liebsten über Kochrezepte plaudern möchte. ,,Dabei ist das Gesicht nur Verstellung“, sagt sie. ,,Ich kann nämlich hexen. Da erschreck‘ ich manchmal selber. Ich glaub‘ auch, daß es die Figuren aus meinen Theaterstücken wirklich gibt, daß sie irgendwo leben und ich sie sehe, denn sie machen mit mir was sie wollen.“Anfangs schrieb sie unter dem Pseudonym Tessa Tüvary – Unterhaltungsromane: ,,Verliebter September“, ,,Das Engelfernrohr“, ,,Das Fest der hungrigen Geister“ Sobald das Pseudonym begraben war, wandte sie sich der Bühne zu. Mit makaber-schrulligen Einaktern (,,Vanillikipferln“, Damenbekanntschaften“) erwarb sie sich den Ruf eines durchtriebenen Heimchens, das ältere Theatergeher mit milden Schaudern überrieseln konnte. ,,Die Wirklichkeit und was man dagegen tut“ ist ihr erstes abendfüllendes Stück. La muerte, der Tod, und der desengao, die notwendige Enttäuschung die beiden großen Themen des barocken spanischen Theaters quellen aus allen Poren dieser tragischen Posse. Zwischen dem Ausspruch des Panoptikumausrufers: „Einmal möcht‘ ich noch träumen, statt zu leben!“ und dem der Drehorgelfrau: Einmal möcht‘ ich noch leben, statt zu träumen!“ entfaltet Lotte lngrisch eine Mythologie des Wiener Wurstelpraters, in dem in vielerlei Bildern die Götter, Helden und Ungeheuer einiger Jahrhunderte verwesen. ,,Wiener Totentanz“, in der Form das mittelalterliche Stationendrama in die Gegenwart transponierend, kann als szenisches Konzentrat aller Ingrisch-Stücke gelten, gleichzeitig auch als eklatantes Beispiel für die Präsenz des Altwiener Volkstheaters: der Kasperl, die natürlichste Rolle des homo sapiens, tritt als Tod, Gott, Richter und Komödiant auf und entlarvt gedankenlose Brutalität und sadistische Freude an der Gemeinheit hinter stoischer Kleinbürgerattitüde. Das Guckkastentheater ist die selbstverständliche Möglichkeit, Sein und Handeln in ein Koordinatensystem der Werte zu stellen, in das Oben und Unten der Bühne, in die Dimension immer neuen Spiels, das Tod und Leben wiederholt. Lotte lngrisch bekennt sich zur Tradition Ich komme aus der Ecke Raimund, Nestroy, Herzmanovsky-Orlando“ -, zugleich aber zu einer im strengen Sinn surrealistischen Schaffensweise: ,,Ich konstruiere meine Geschichten und Theaterstücke nicht, ich muß selber immer überrascht werden von dem, was meine Figuren tun. Unbewußtes spielt eine größere Rolle als vorher Konzipiertes.“ Von der heilenden Kraft weiblicher Intuition und Irrationalität durchdrungen, alles andere als eine Sachwalterin des heutigen Feminismus, distanziert sie sich vom Dokumentarischen, Politischen, Moralischen, vom realistischen Gebrauchsstück. Und unternimmt folgerichtig den Versuch, die Welt der Wursteln, Geister und Feen in das wissenschaftlich-technische Zeitalter einbrechen zu lassen. Das musikalische Zauberspiel ,,Kybernetische Hochzeit“ beschreibt nicht nur die düstere Zukunft der Vermählung des Menschen mit der Maschine, sondern entwirft ihr eigenes Weltbild, in dem es keinen Tod gibt und Herr Seraphim zum tröstenden Ausklang als die unzerstörbare Metaphysik triumphiert. übersinnlich, grün und metaphysisch das ist mehr, als der herkömmliche Kunstgeschmack zu verzeihen bereit ist. Lotte lngrischs Libretto zu Gottfried von Einems Mysterienoper Jesu Hochzeit“, einem allegorischen Spektakel von der ,,chymischen Hochzeit des reinen Lichtes Jesus mit der Nacht, der Tödin, wobei Jesus den Tod erlöst und für uns liebbar gemacht hat“ (lngrisch), entrüstete die Gemüter und trug der Autorin eine Anzeige wegen Herabwürdigung religiöser Lehren ein. Bei der Uraufführung betete man vor dem Theater an der Wien um Österreichs Seelenheil, und Stinkbomben fielen ins Parkett. An die Symbolik von „Jesu Hochzeit“ schließt die „Herzreise“ an. Wieder wird ein unmittelbares, überkonfessionelles religiöses Geschehen ins Spiel gebracht, wieder rührt das Bühnengeschehen an die Bildersprache des Unbewußten, agieren Figuren von archetypischer Prägnanz. Dokument einer Bewußtseinsüberschreitung, einer Ich-Spaltung, ist der Roman Amour noir“ nicht nur Literatur, sondern Versuch einer Sinndeutung, wobei auch topoi des Schamanentums anklingen. Im Labyrinth des zerbombten, aufgerissenen, eingestürzten Nachkriegs-
Wien, wie man es aus Ken Reads Kultfilm ,,Der dritte dann“ kennt, überlagern sich Leben und Tod zu einem apokalyptischen Vexierbild. Immer schon war der Tod ihr Thema. Tod als Übergang ins ganz Andere, ohne schreckhafte Vertuschung. Kauzig versponnen, voll naiver Wahrheiten (,,sterbend entwickeln wir uns“) ist der ,,Reiseführer ins Jenseits“, ein mitreißendes Plädoyer gegen unser neurotisches Verhalten, das den Tod nicht als Märchen, Partner, Liebhaber und großen Vollender annimmt. Ihre Zwischenreichserlebnisse und Erfahrungen mit übersinnlichen Phänomenen hielt die Hexe von Rindlberg in dem okkulten, ,,dem armen Wui Wui“ gewidmeten ,,Nächtebuch“ fest. Es ist die Rückseite unseres Bewußtseins, die Welt hinter dem Spiegel, von der sie berichtet. Die Grenzen zu anderen Universen, so ihre These, sind überschreitbar, unendlich nach allen Seiten ist die Skala unseres Bewußtseins. ,,Meine Welt hat, wie meine Person, nie feste Grenzen. Keine Welt hat sie, und keine Person. Wir ziehen sie künstlich, um die Illusion unserer Identität zu bewahren. Und schließen die grenzenlose, wundervolle Wirklichkeit aus.“