Zeitgenossinnenschaft par excellence
Als „kluge Chronistin unserer Alltagskultur, die sie nuanciert und auch befreiend komisch verarbeitet“ wurde Margit Schreiner anlässlich der Verleihung des Anton-Wildgans-Preises der Österreichischen Indus-trie 2016 gewürdigt. Die vielseitige und politische Schriftstellerin, deren über zwanzig publizierte Bücher sowohl Erzählungen und Essays als auch Theaterstücke und Lyrik umfassen, erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Preise, wie den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur (2009), den Theodor-Körner-Förderungspreis (1986; 2000), den Johann-Beer-Literaturpreis (2015) sowie den Heinrich-Gleißner-Preis (2015). Mit Kein Platz mehr war sie 2018 für den Österreichischen Buchpreis nominiert.
Die Zuerkennung des Würdigungspreises für Literatur des Landes Niederösterreich ist eine weitere Auszeichnung und ein Indikator für die überregionale und universelle Bedeutung von Schreiners Literatur, die sich den weiblichen Lebenserfahrungen und familiären Konstellationen im 20. Jahrhundert verschrieben hat. Ob in ihrem 1989 erschienenen Debüt Die Rosen des Heiligen Benedikt, ihrem erfolgreichsten Buch, dem Monolog Haus, Frauen, Sex (2001), oder zuletzt und insbesondere in der noch unabgeschlossenen Tetralogie Über das Private stellt ihr Schreiben ein radikales Be- und Hinterfragen normativer Lebensmuster und Geschlechterrollen dar.
Anlässlich eines Interviews hat Schreiner hinsichtlich ihrer Poetologie und ihres autobiografischen Schreibens konstatiert, dass sie im „Schreibprozess selbst mein eigenes Leben als Material behandle“, wobei sie auswähle, filtere, wiederhole, streiche, ändere: „Ich sehe da für mich keinen Unterschied in der Behandlung eigenen oder fremden Materials. Mein eigenes Ich kenne ich einfach nur am besten.“
Das scheinbar randständige, marginale, der Rohstoff des eigenen Lebens, wird im Brennglas der subjektiven Erfahrung überhöht und lesbar: „In meinem Gedächtnis gibt es einen Mythologen und einen Archivar. Der Mythologe kümmert sich darum, aus den buntgewürfelten Ereignissen meines Lebens einen roten Faden zu weben, der schließlich in meinem jeweiligen
Ich mündet. Selbstverständlich webt der Mythologe mein Leben lang an diesem, einem Ich, lässt manches wieder fallen, um es später durch anderes zu ersetzen beziehungsweise einzuweben. […] Ich hatte in meinem Leben stets einen verlässlich arbeitenden Mythologen im Kopf und einen sehr schlampigen Archivar.“
Von der Forderung nach Wahrheit in der Literatur grenzt sich Schreiner jedoch ab. Dabei ist ihre Prosa, die von einem unnachahmlichen, auf der Klaviatur der Ironie spielenden Sound durchdrungen ist, charakterisierbar durch eine besondere Brisanz und Schamlosigkeit. „Literatur ist vielleicht die Kunst, die Dinge so lange zu verdrehen, bis aus der Drehung eine neue Gesamtsicht entsteht. Dazu ist die Fähigkeit nötig, den Anblick aller Seiten zu ertragen“, postuliert Schreiner im Essay Frauen verstehen keinen Spaß.
Für Schreiner existieren keine gesellschaftlichen Tabus, vielmehr ist ihre Literatur von der Lust am Aufdecken von Unzumutbarkeiten geprägt: Das Sterben der Eltern, des Vaters in Nackte Väter (1997) und der Mutter in Heißt lieben (2003), kommt ebenso schonungslos zur Sprache wie das Heranwachsen als junges Mädchen im Österreich der Nachkriegszeit, die Mutterrolle oder das eigene Altern. Eine eminente Rolle spielen dabei Herkunft, soziale Verhältnisse und die eigene Klassenzugehörigkeit. Dabei solle ihre Literatur aber „zum Heulen lustig“ sein, wie sie im Essay Schreibt Ingeborg Bachmann Männerliteratur? festhält.
Die in Linz geborene und aufgewachsene Globetrotterin lebt nach längeren Aufenthalten in Tokio, Paris, Berlin, Italien und wieder Linz seit 2018 im niederösterreichischen Gmünd. An „meinem neuen Wohnsitz im abgelegenen Waldviertel […] am Rande des Naturschutzgebietes“, heißt es en passant über ihren neuen Lebensmittelpunkt in Vater. Mutter. Kind. Kriegserklärungen (2021), dem Auftakt ihrer Tetralogie Über das Private. Es sind Rites de Passage, die vor allem in ihren in den letzten Jahren erschienen Werken von zentraler Bedeutung sind und sich der Erforschung der eigenen Lebenswelt wie jener der zeit- und weltgeschichtlichen Erfahrungen widmen.
Stefan Maurer