Marianne Gruber

Literatur

Zurück zum Menschen

Für den neuen Künstler, so meinte Ortega y Gasset, entspringe die Kunstfreude aus dem Triumph über das Menschliche. Die neue Fühlfähigkeit in der Kunst schien ihm von einem Ekel am Menschlichen beherrscht zu sein. Folgerichtig forderte er auf, den Menschen aus der Kunst zu vertreiben. Wir wissen heute, wohin dieser Unfug führt. Die intellektuelle Machbarkeit eines Kunstwerks ist längst zum Fluch geworden. Während sich die Lehre von der menschenlosen Kunst immer doktrinärer zu gebärden beginnt, was immer ein Zeichen der Verwitterung, der Korrosion und eines End-Spiels ist, entdeckt eine neue Generation wieder die Seele, die Kraft ihres eigenen Lebens, das Bleibende, das Licht. Sie will nicht mehr dem Fluch des Bloß-fv1echanischen verfallen bleiben, sich nicht nur an das Ornament hingeben. Sie entdeckt wieder die Seelenvibration (von der bereits Kandinsky gesprochen hat), will wieder Werke schaffen, die, um ein Wort von Werfel aufzunehmen, einzige, nicht wiederholbare Abbilder des Erzeugers, Abbilder seiner Seele sind, höchst individuell und dennoch Gesetz. Die Kunst holt den Menschen wieder heim aus dem Exil. Sie entdeckt wieder die Allzeitlichkeit Gottes, der in jedem geborenen Menschen aufersteht. ,, Ich mag Menschen. Sie interessieren mich mehr als alles andre“, bekennt Marianne Gruber. ,,Vermutlich hab‘ ich deshalb angefangen, Medizin zu studieren, und dann, als ich schon verheiratet war, die PsychologieVorlesungen bei Frankl gehört. Aus all diesen Versuchen resultiert zumindest die Einsicht, daß Sprache das Mittel der Verdammnis wie der Erlösung ist. Die Folgerung daraus ist, daß Literatur radikal für den Menschen zu sein hat, die einzige Radikalität, die ich vertreten möchte. Sie hat für ihn zu sein, und wo immer sie kann, für ihn zu sprechen, der in einer Welt lebt, die er nicht oder nur sehr unvollständig begreift, aber in der er entscheiden muß, als wüßte er tatsächlich die Wahrheit, ohne jemals die Auswirkungen seiner Entscheidungen und seines Tuns überschauen zu können. Sie ist (für mich) der Versuch, in dieses Dunkel ein bißchen Licht zu bringen. In diesem Sinn ist Literatur des Hasses mißbrauchte Literatur. Es geht ganz im Gegenteil darum, gerade heute eine neue Poesie des Lebens und eine Zärtlichkeit des Denkens zur Sprache zu bringen, also jenes Engagement, das ohne Waffen auskommt, selbst nicht zur Waffe nämlich zur tödlichen oder verletzenden wird, und der Gleichgültigkeit entgegentritt. Unter Zärtlichkeit des Denkens verstehe ich den Menschen zu meinen ohne Ausschluß und Einschränkung.“ Geboren wurde Marianne Gruber am 4. Juni 1944 in Wien, ihre frühe Kindheit aber war vom Erlebnis ländlicher Umwelt geprägt. Ihre ersten sechs Lebensjahre verbrachte sie auf dem Bauernhof ihres Großvaters im Burgenland. In Wien besuchte sie dann die Volks- und Mittelschule, nach der Matura studierte sie einige Semester Medizin und Psychologie – nebenbei auch Klavier am Konservatorium bei Prof. Karger. Die erste Veröffentlichung Marianne Grubers, die kurze Erzählung ,, Lieber Herr“, erfolgte in der CD-press. Bald darauf wurde diese Erzählung von Reinhard Federmann in der vierten Nummer der von ihm herausgegebenen Zeitschrift ,,Die Pestsäule“ nachgedruckt. Schon in dieser frühen Arbeit sind keimhaft jene Elemente zu erkennen, die in ihrem (bisher einzigen) Roman ,,Die Glaskugel“ (1981) sich lebendig zusammenschließen und die Atmosphäre bestimmen: die versteckte Zeit wird gesucht, das Wort, das den ,,Anderen“ verwandelt, mehr, als er ahnen kann, während seine Ohren ausbrechen möchten und ein anderes Wort suchen, das nicht ganz deutlich und nicht ganz vergessen mit den Schatten der Morgensonne, der Mittagsglut, der Abenddämmerung wandert … “ In rascher Folge entstehen Kurzgeschichten, Dialektgedichte und Essays. Eines gilt Viktor Frankl, ihrem verehrten Lehrer, ,, Existenzanalyse und Literatur“. Marianne Grubers Arbeiten erscheinen in den Zeitschriften ,,das pult“, ,,Fettfleck“ ,,Literatur und Kritik“ und im „Wiener Journal“. Und als das Staatssekretariat für Frauenfragen einen Wettbewerb für die besten Kinderund Jugendgeschichten zu dem Thema „Mädchen dürfen pfeifen, Buben dürfen weinen“ ausschreibt, ist Marianne Gruber bereits unter den Preisträgern. Ihre Geschichte ,,Tränen sind wie Regen“, die von der Kinderliebe eines kleinen Mädchens zu einem „Albino“-Bauernjungen und dem seelischen Druck erzählt, unter dem der Bub aufwächst, wird in den mit dem Jugendbuchpreis der Stadt Wien ausgezeichneten Geschichtenband aufgenommen. Mit dem Roman ,,Die Glaskugel“ gelingt ihr eine Parabel des Lebens. Die Geschichte, die Marianne Gruber darin erzählt, ist eine utopische Tragödie, die schattenschwere Vision einer total durchrationalisierten, total verbeamteten Welt, deren Symbol die Stadt ist. Über der Stadt liegt eine Lärmglocke, die je nach Wetterlage die Worte zurückwirft. Der Lärm hat ein so furchtbares Ausmaß erreicht, daß keine der alten Schallisolierungen mehr ausreicht. Die Menschen leben in Kugeln. Stadt und Land sind streng voneinander getrennt. Die Bewohner der Stadt dürfen das offene Land nur unter bestimmten und streng kontrollierten Voraussetzungen betreten. Der Mensch ist stillgelegt. Er funktioniert nur mehr mechanisch. Die organisierteste aller Welten wird zur Welt der Verbote. Es gibt keine Erlösung. Es gibt nur eines: anzustreben, gar nicht erst geboren zu werden. Das Leben in der Stadt ist ein einziges Spiel der leere. Nur wer sich die Ohren verstopft, kann ,,leben“. Der Lärm frißt alles, auch die Gedanken, die Erinnerungen, und damit die Identität. Angst steht vor und hinter den Augen, aber man darf sie nicht zeigen oder zugeben. In den überbevölkerten Städten hat ein guter Bürger so zu tun, als ob er glücklich wäre und ein fröhliches Gesicht zu zeigen. Ein junger Mann, der in einer der schallisolierten Glaskugeln lebt, erhält eines Tages einen Brief. Der Absender, einer seiner ehemaligen Lehrer, an die sich freilich der Briefempfänger nicht mehr zu erinnern vermag, lädt ihn zu sich ein. Gleichzeitig warnt der Schreiber, der in einer der tabuierten Zonen lebt, den Eingeladenen aber, zu kommen – denn es bedeute ,,einen noch größeren Schmerz, unter Menschen zu leben.“ Die eigentliche Handlung schildert den Versuch, herauszubekommen, ob der Eingeladene den Besuch abstatten will und kann. Die Geschichte wird zur ,,Geschichte der Konzentration, die ein Mensch aufbringen muß, um zu behalten, was er erinnern wollte.“ Dieses Geschehen läuft in einer Raum-Zeit ab, die der Relativitätstheorie Einsteins entspricht: der Raum ist aktuell, aber in ihn ist, als vierte Dimension, die Zeit eingefügt. Manche Episoden des Romans, in dem Verzweiflung und Hoffnung, Überreizung und Lethargie, Enttäuschung und Erlösungssehnsucht, Bewußtes und Unbewußtes sich im Verhältnis zueinander definieren, klingen an die Stimmung psychopathischer Zergliederungsromane an: aber auch diese Überspannung, auch dieses krankhafte Wesen ist, um eine Erkenntnis Goethes aufzunehmen, ein ,,Zustand der Natur“: durch ihn hindurch führt der Weg zu neuen Werten und zur möglichen Erlösung. Natürlich gibt es Affinitäten, quer durch den Raum, quer durch die Zeit. Csokors ,,Ballade von der Stadt“ ist von gleichem Gefühl gespeist worden. Kafka, Kubin, Huxley, Baconsky, aber auch Werfel mit seinem ,,Stern der Ungeborenen“ stehen Pate. Das Leben in der absolut gesetzten Stadt ist eine Hölle. Eine furchtbare Imagination. Aber wer trägt nicht dazu bei, daß diese Hölle geschaffen wird!? Und doch gibt es auch in dieser total geregelten Welt noch Sehnsucht. Der Held des Romans verkörpert sie. Und diese Sehnsucht ist die Antwort auf den Wahnsinn, nicht Rückschrittlertum, sondern ,,eine Form von menschlichem Anstand“. Eine neue Zärtlichkeit überströmt den Menschen. Wir können der Vernichtung entgegenarbeiten. Das Tote um uns herum kann wieder zu leben beginnen. „Schreiben“, so bekennt Marianne Gruber, ,,heißt, um das kämpfen, was der Mensch sein könnte.“

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 1982