Das Arnold-Syndrom
Zwei Wohnzimmer in Hollywood, zwei familiäre Filmszenen: In den Arbeiten des Avantgarde-Filmemachers Martin Arnold ist die (inszenierte) Weltjeweils nur ein paar Sekunden lang heil, nämlich ganz am Anfang. Dann ist für die Menschen in den Bildern, für die Räume, in denen sie sich aufhalten, und für die Geräusche, die sie produzieren, alles zu spät: Die Zertrümmerung der Welt beginnt, mit einer Maschine namens Optical Printer, die die alten amerikanischen Filmfundstücke Bild für Bild abtastet, um Raum und Zeit, so gut das geht, zu zerschlagen. In Arnolds Hauptwerken, in piece touchee (1989) und passage a l’acte (1993) ereignen sich mikroskopische Dramen, aufgelöstin hoch komplexe Tanzschritte: Seine schwarzweißen Kinohelden verwandeln sich, im rabiaten Vor- und Rücklauf des Filmbildes, in Spastiker, werden zu zuckenden Marionetten, die – schwer krank – mit Türen, Sesseln, Tellern, Gabeln und nicht zuletzt: miteinander zu kämpfen haben. Mitunter sieht das aus, als hätte man Fred Astaire und Ginger Rogers ein letztes Mal nach der Übernahme ihrer Körper durch die Außerirdischen porträtieren wollen. Arnold ist ein body snatcher, einer, der sich die Körper ahnungsloser Filmschauspieler aneignet, um sie für seine technologischen und ideologischen Operationen benützen zu können. Sein Umgang mit den gefundenen Bildern scheint manchen Methoden des Künstlers Arnulf Rainer nicht unähnlich zu sein: Arnolds Filme sind Übermalungen, Neuformulierungen über altes (film)sprachliches Material. Er selbst spricht von ,,Einschreibungen“, von Symptomen, die er Hollywood und seinen künstlichen Menschen einpflanzt, von Symptomfilmen. pice touchee, das heißt- unter anderem- im Schachspielerjargon ,,berührt-geführt“. Für diese Arbeit kann das heißen: Ein Filmemacher berührt eine sehr trivia le 18sekündige Sequenz aus Joseph M. Newmans The Human Jungle (1954), einem für die Firma Allied Artists produzierten B-Picture von der Stange, das sich mit dem Leben in den Slums, mit grundbösen Verbrechern und einem singulären aufrechten Cop auseinandersetzt. Davon ist in Arnolds 18 Sekunden nichts zu sehen. Nur ein Wohnzimmer, in dem eine Frau sitzt, ein Mann, der in den Raum und von hinten auf die Frau zu tritt, sie küßt, unhörbarirgendwas sagt und im Reiß schwenk wieder aus dem Bild verschwindet. Der Film über dieses Filmstück, Arnolds Vivisektion dieser Menschenschatten und ihrer Bewegungen, nimmt 16 Minuten in Anspruch. Über oder unter dem Film liegt monotones Dröhnen, eine Ton-Endlosschleife, die Arnold aus dem Geräusch der sich schließenden Tür gebastelt hat: der Soundtrack zum familiären Horror, zu dem in den Codes der filmischen fünfziger Jahre festgefrorenen, brutalen Geschlechterrollenden ken. Der über-sexualisierte piece bespricht aber nebenbei nicht nur gender politics (eine wartende passive Frau, gegen den verzweifelt aktiven Mann gesetzt, der die Bewegungen vorgibt, das Bild und den Blick der Kamera dominiert): Es geht um mehr als das, es geht um Formen und Themen, die die Filmavantgarde seit den sechziger Jahren beschäftigen: um den Materialbegriff des Films, um Zeit/Raum-Bearbeitung- und sogar für ein sarkastisch-leichtfertiges Zitat zum amerikanischen Flicker-Film ist Arnold zu haben. Der Mann löscht, in seinem katastrophalen Kampf mit der Eingangstür, das Licht am Gang, was in seinen bizarren Vor- und Rückwärtsbewegungen zu einem Hell/Dunkel-Stakkato wird. Was dabei auch sichtbar wird: die asynchrone Lichtregie eines schnell hingekritzelten B-Films wie diesem, wo der Schalter gedrückt wird und viele Sekundenbruchteile später erst auch das Licht ausgeht. Hollywood, sagt Arnold, produziert ein ,,Kino der Verdrängung“. Ihm gehe es darum, diese verdrängten Ideen freizulegen: spielerisch-psychoanalytisch, gewissermaßen. In passage a l’acte ist das Ausgangsmaterial ungleich berühmter ( und von dichterer Population) als piece touchee: Ein kurzer Cut aus Robert Mulligans Rassendrama To Kill a Mockingbird (1962) zeigt Mann, Frau und zwei Kinder an einem Tisch. Arnold benützt respektlos einen Splitter aus Gregory Pecks OscarPerformance, um Mulligans liberales Melodram kurzerhand zum Kriegsfilm umzuarbeiten. Und erstmals infiziert er auch den Synchronton mit dem Arnold-Syndrom: Peck und die Kinder – die Frau schweigt debiloid – röhren, stottern, kreischen mit ihrem Geschirr und der auf- und zuschlagenden Tür um die Wette. passage ist, in seinen nunmehr audio-visuellen Spasmen, näher noch als piece an der Musiktechnik des Sampling, am HipHop und dem Crossover-Jazz etwa John Zorns oder Christian Ma relays, die Arnold immer wieder als Inspirationsquellen nennt. Peter Tscherkassky hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß es hier, im Gemisch von Sprache und Hintergrundgeräuschen, zu einer ,,semantischen Gleichwertigkeit“ kommt: Die gesprochene Sprache verliert ihre Vorrangstellung (und das meiste ihrer eigentlichen Bedeutung), sie wird musikalisiert und neben den white noisedes Alltags gestellt. Daß die Familie bei Tisch übrigens nur augenscheinlich eine solche ist, daß in ,,Wirklichkeit“ aber (in der Story des Originalfilms) nicht einmal das der Fall ist, spricht noch einmal für Arnolds filmgewordene These, daß Bilder und Töne schnell identifizierbare Ideologien und neue ,,Wahrheiten“ gegen alle Worte bauen. Aus Arnolds Filmen, nicht nur aus diesen beiden, auch aus dem Destruktionsgewitter etwa seines Werbespots Brain Again oder aus seiner knappen Raum- und Geschwindigkeitsvermessung Remise spricht Rage against the Machine, der Zorn gegen die Kinomaschine: Er arbeite daran, seine Figuren, allesamt Stützen klassischer konservativer Filmnarration, ,,ins Wan ken geraten, ins Schleudern kommen“ zu lassen. Er liebt es, sich an den Ticks und Krankheitsbildern seiner Helden zu weiden, für die er- ein Täter- selbst alleinverantwortlich ist. Peter Kubelka, auf den Arnold sich grundsätzlich beruft, sagt: ,,Film ist nicht Bewegung, sondern eine Projektion von Standbildern“. Und Scott MacDonald geht, in der Analyse der Filme Martin Arnolds, mit einigem Recht zu den Bewegungsstudien Eadweard Muybridges und den frühen Filmtricks des Georges Melies zurück. Beides – die Tatsache, daß Kino aus Einzelbildern gebaut ist und die Liebe zum handgefertigten Trickfilm -gehört zu den essentials der Arbeiten Arnolds, die gegen den industriell erzeugten Film polemisieren, um zugleich aus solchen Kriegserklärungen minimalistische neue Actionfilme zu schälen. Der sich wendende Kopf der Frau, vertikalachsengespiegelt, scheint sich in piece touchee durchzudrehen wie Linda Blairs grünes, pustelbesetztes, dämonenbesessenes Haupt in Friedkins The Exorcist. Und die beiden Kinder am Eßtisch, am unteren Ende der familiären Befehlskette und infiziert vom Virus der Gewalt, beginnen zu zittern in einem horriblen Moment von passage a l’acte, als wollten sie aufbrechen, ihr Innerstes nach außen kehren wie die Gastkörper in Alien: Die Schreckensbilder in den Filmen Martin Arnolds demonstrieren eine Aggression gegen die Kunstwelt Spielfilm, die die Ironie anderer Augenblicke und die musikalisch-tänzerische Struktur dieser Filme nur mit Mühe auffangen. Life Wastes Andy Hardy lautet der Arbeitstitel des nächsten Arnold-Projekts: Es soll erneut ein found-footage-Film werden, eine neue Subtextanalyse zu einer der populärsten Hollywood-Filmserien, die die Geschichte kennt: Der makabre Mickey Rooney, Kindmann, trieb in ihnen neben einer Unzahl von Starlets als Mitglied der sentimentalhumoristischen Hardy-Family sein Unwesen, auf dem Gelände der Metro-Goldwyn-Mayer, zwischen 1937 und 1946. Wieder eine Familie also, wenn nicht alles täuscht, und – vermutlich – wieder eines dieser Wohnzimmer, eines der dröhnenden Arnold’schen Wohnpatientenzimmer.