Martin Prinz

Literatur

Das Risiko der Erwartung

Gewöhnliche Ereignisse und Vorgangsweisen werden bisweilen von ungewöhnlichen unterbrochen, wohl auch um das Bewusstsein für das, eine größere Sicherheit verströmende, gewissermaßen Normale zu stärken. Doch ohne anfängliches Risiko könnte selbst das später Alltägliche nicht gedeihen. So verhält es sich, meiner Beobachtung nach, auch bei der Einreichung und Bewertung von künstlerischen Arbeiten im Rahmen des Procedere vor einer Preisverleihung. Der übliche Vorgang: Über mehrere Jahre hinweg ist eine Anzahl von Künstlern zu registrieren, die imstande ist, regelmäßig und bei verschiedensten Stellen einzureichen und somit schon durch ihr immer wiederkehrendes Einreichen den Juroren geläufig wird. Diese ständige Präsenz lässt, zusätzlich zur künstlerischen Bedeutung, eine berechtigt erscheinende Preiswürdigkeit des Einreichers entstehen, denn man kann nicht leugnen, dass auch die Häufigkeit des Bemerktwerdens heutzutage eines unserer Qualitätsmerkmale geworden ist. So kommt es dann in dem speziellen, hier abgehandelten Bereich zu einer Gruppe von Literaten, deren Namen den Eingeweihten bekannt, deren Arbeiten anerkannt sind und an die eine Auszeichnung zu verleihen für die Juroren kein Risiko bedeutet. Dies ist weit eher eine Frage der Jahre denn der Spontanität. Die Kunstrichter sind dadurch mit dem schriftstellerischen Werk des Ausgezeichneten bereits so vertraut, dass in ihre Reflexionen darüber fast schon wesensverwandte Töne einfließen. Eine heimelige Schar von beschriebenen Blättern, die selbst die Preisfrage eher zusammen, denn auseinander wirbelt. So jedenfalls stellt sich, zumindest auf den ersten Blick, die übliche Situation dar. Jetzt aber kommt eine der Ausnahmen, ohne Sicherheitsnetz, mitvollem Risiko. Einjunger Mann, er heißt Martin Prinz, 27 Jahre alt, im Theaterbereich und im Bereich der Germanistik und Publizistik tätig, reicht das Manuskript seines Romans mit dem Arbeitstitel ,,Stadtbahn“ ein. Es gibt keine Vergleiche mit dem, was er vielleicht schon geschrieben hat. Mir ist er auch als Person nicht bekannt. Aber seine 165 Seiten lassen aufmerken. Man könnte diese Seiten ohne weiteres sarkastisch beurteilen; man könnte sie auseinandernehmen und ohne größere Schwierigkeiten in anderer Reihenfolge wieder zusammensetzen. Der Inhalt würde kaum verfälscht werden. Er besteht in der Erinnerung über das vergangene Zusammensein zweier Personen. Der Versuch der männlichen Person, die Isolation durch einen Sommer auflrland zu vertreiben, wechselt mehrmals unvermittelt mit Julias täglichem Heimweg aus dem Zentrum Wiens, unter der Stadtbahnbrücke durch, in die Vorstadt, wo sie in ihre Wohnung als Single zurückkehrt. Dabei ereignet sich nicht viel, zumindest nicht viel, das unmittelbar auf das Folgende angewiesen wäre. Es sind Reflexionen, kleine Steine, die möglicherweise vom eigenen Erleben herrühren, doch in ihrer Gesamtheit ergeben sie das Mosaik eines eher abstrakten Bildes, dessen Teilchen durch die Aufmerksamkeit der Sprache zusammengehalten werden. Auch sie ist nicht jedermanns Sache; warum auch? Manchmal hat sie die wohltuende Klarheit des derzeitigen Doyens, manchmal die abgehobene Metaphorik des einstigen Enfent terrible unserer Literatur. Aber das sind Spekulationen, denen ich nicht weiter folgen will; doch dass diese Sprache die eigenwillige Zerrissenheit, Ziellosigkeit und gleichzeitig egozentrischen Sinngebungsversuche der neuen Generation widerspiegelt, verdient Beachtung, weil sie über die Normalskala der schriftstellerischen Produktionen hinausreicht. Ein kleiner Augenblick nur, vom abendlichen Schließen bis zum Verlassen der Geschäfte, sei beispielhaft zitiert: „In dieser kurzen Zeitspanne sahen im hellen Schein die wenigen Gesichter hinter den Auslagenscheiben jenen Fernseh-Gesichtern ähnlich, die man zu bestimmten Tageszeiten, beim Nachhausekommen von der Arbeit, gern neben sich hatte, sie nur im Vorbeigehen, aus den Augenwinkeln, oft auch ohne Ton, wahrnahm, etwa um nicht allein in der Wohnungzu sein. Heimliche Freunde, die man dann gleich abdrehte, wenn der Freund, die Freundin oder sonstwer heimkam.“ Mann und Frau, Stadt und Land, Wirklichkeit und Phantasie, Vergangenheit und Zukunft treffen auf- oder fließen ineinander. Was fasziniert, ist das Verlassen der gängigen Pfade, der Versuch, einen anderen Weg zu finden, außerhalb der literarischen Sicherheitszonen und der üblichen Treffpunkte. Nichts garantiert dabei, ob dieser Weg in eine Sackgasse führt, ein Irrweg ist oder ein Emporsteigen. Der Erzähler, der mit seinem Roman plötzlich aufgetaucht, kann ebenso rasch wieder verschwinden oder aber bleiben. Was aufalle Fälle bleibt, ist für mich die erfreuliche Tatsache, dass die Jury das Risiko einer ungewöhnlichen Entscheidung auf sich nahm, gerechtfertigt durch die offen deklarierte Erwartungshaltung. Für den jungen Mann und die Literaturszene würden wir uns wünschen, dass sich diese Erwartung erfüllt.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 2000