Michael Haneke

Medienkunst
Künstlerischer Spielfilm

No Exit

Gegen Ende von Michäl Hanekes jüngstem Film Code inconnu (Code unbekannt) gibt es eine bewegende, schmerzhafte, moralisch und politisch kaum ,,lösbare“ Szene. Es handelt sich um eine lange Sequenz ohne Schnitte, gedreht aus einer fixen Kameraposition. Der Schauplatz ist ein U-Bahn-Waggon in der Pariser Metro: Juliette Binoche ( die im Film eine Schauspielerin darstellt) wird von einem jungen Araber verbal attackiert, doch sie geht auf seine Beleidigungen nicht ein. Keiner der anderen Fahrgäste kommentiert das Geschehen. Die Situation beruhigt sich, der Araber setzt sich aufden Platz unmittelbar neben Binoche. Kurz bevor er den Zug verlässt Binoche hat ihm immer noch keine ,,Antwort“ gegeben und nicht die geringste Reaktion gezeigt- spuckt ihr der Bursch ins Gesicht. Ein älterer Mann schreit ihm nach, doch der Araber ist bereits in der Station verschwunden. Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Binoche wischt sich das Gesicht ab, dann beginnt sie zu weinen. Diese Szene befasst sich mit einem Beziehungsgeflecht, das in den modernen Geisteswissenschaften gerne unter dem logo-artigen Titel ,,Geschlecht, Klasse, Ethnizität“ subsumiert wird. Aber statt der Phrase erleben wir ein plastisches, nahezu grausam komplexes Bild. Komplex ist dieses Bild unter anderem deshalb, weil es Fragen nach Schuld und Humanität aufwirft, die unter den Bedingungen einer modernen multikulturellen Gesellschaft nicht eindeutig zu beantworten sind. ,,Grausam“ ist es, weil wir kaum mehr gewohnt sind, antwortlos zu erzittern; und weil dieses Erzittern Schmerz bereitet. Plastisch ist es, weil der insistierende, ungeschnittene Kamerablickin die Tiefe des U-Bahn-Waggons sämtliche Energieströme zwischen den Figuren räumlich wie zeitlich spürbar macht, ohne unsere Aufmerksamkeit zu lenken und uns genau vorzuschreiben, wann wir, wie wir, aufwen oder was wir zu blicken haben. Das Kino, das sich in solchen Szenen aktualisiert, habe ich vor zehn Jahren in einem Buch über Michäl Haneke einen ,,noblen Anachronismus“ genannt. Hanekes Werk fügt sich in die eine europäische Filmtradition, die zwischen 1950 und den frühen 80er Jahren diskursbestimmend war- verbunden mit Namen wie Antonioni, Bergman oder Tarkovskij, und geprägt von dem Vorsatz, Film als eine zugleich moderne und erzählerische Kunst zu betreiben. Als eine Kunst, die sich stetig selbst reflektiert, in der existenzielle Fragen, Fragen der Philosophie und der Gesellschaft die zentrale Rolle spielen, und die damit notgedrungen wenig Optimismus ausstrahlt. Seit den 80er Jahren ( als Hanekes Kinoarbeit begann) ist diese Filmtradition wieder in den Hintergrund getretenbzw. als ,,zu pessimistisch“ oder ,,bedeutungsschwanger“ kritisiertworden. Vielleicht kommt daher die Idee eines ,,noblen Anachronismus“- die Versprechungen von Pop und postmoderner Hybrid(kino)kulturschienen damals zeitgemäßer, aber auch subversiver zu sein. Meine Erfahrungen mit dem Kino und der Lebenswelt in einer westeuropäischen Luxusgesellschaft lassen mich mittlerweile daran zweifeln, ob der damalige (ein wenig ,,schulterklopfende“) Ausdrucknoch gerechtfertigt ist. Hanekes Kino wirkt im Moment sogar extrem zeitgenössisch und gar nicht mehr sonderlich pessimistisch, weil es der längst abgestumpften Postmoderne einen bei aller kunstvollen Konstruktion -klaren und harten Blick aufdie Realität entgegensetzt. In der Ära Haider, da der öffentliche Diskurs absolut marktschreierisch, illusionistisch, bilderverrückt, fragenlos und antwortensatt geworden ist, erinnern Hanekes Filme an eine Welt hinter den Kulissen. Dieser skeptische Gestus ist schon in Hanekes Fernsehfilmen der 70er Jahre sehr präsent. Sein Interesse an Aufklärung und Selbstreflexion trafin den öffentlich-rechtlichen TV-Anstalten Deutschlands und Österreichs auf ein Milieu, das „Kritik“ ausdrücklich förderte – allerdings meist nur im Rahmen konventionell realistischer Darstellungsweisen, die Haneke regelmäßig außer Kraft setzen mußte, um seinen eigenen Stil zu finden. Dieser Stil entfernt sich immer stärker vom ,,runden“, psychologisch-veristischen Erzählmodell des 19. Jahrhunderts. Bezeichnenderweise trägt sein vielleicht schönster und zwingendster Film den Titel 71 Fragmente einer Chronologie des Zufalls. Weil er einembildungsbürgerlichen Milieu entstammt, durchläuft Haneke vor dem Fernsehen und Kino ein paar „klassische“ Umwege (und bricht sie zumeist rasch wieder ab): Klavierspieler, Schriftsteller, Philosophiestudent, Literaturkritiker, Redakteur, Theaterregisseur. Bühnenerfolge bringen ihm einen Fernsehauftrag ein: … und was kommt danach? (After Liverpool), ein experimentelles, 1974 im Südwestfunk-Studio gedrehtes Zweipersonenstücknach James Saunders über die Fallen der sprachlichen Kommunikation. Auch seine erste Arbeit für den ORF, Drei Wege zum See (1976, nach Ingeborg Bachmann), ist adaptierte Literatur, allerdings filmisch „geöffnet“ und transformiert. Dieser Vorgangsweise blieb Haneke bis heute in mehreren TV-Filmen treu. Er reizt die verhasste Gattung der ,,Literaturverfilmung“ bis an die Grenzen aus: Statt einer braven Bebilderung des blanken Erzählstroms ( und dem damit meist einhergehenden Verrat an derbesonderen literarischen Sprache) versucht er, dieses Eigene der Sprachwelt zu erhalten (z.B. durch eine trockene Erzählerstimme) und zugleich eine moderne, fragmentarische Bilderkette zu etablieren. Seine ,,literarischen Fernsehfilme“ sehen dementsprechend starkwie Kino aus: Wer warEdgar Allan? ( 1984, nach Peter Rosei), Die Rebellion ( 1993, nach Joseph Roth) oder Das Schloss (1997, nach Franz Kafka). In den TV-Filmen, die auf eigenen Stoffen basieren, kündigt sich Hanekes spätere Kinoarbeit aber noch deutlicher an: vor allem Lemminge (1979), ein halb-autobiografischer Zweiteiler, ist von jenem dunklen Sog der Verzweiflung getragen, der falsche Auswege von vornherein ausschließt. Dennoch schimmert immer wieder die Frage nach der Rolle von Religion, Utopie oder Hoffnung im Leben der entfremdeten Menschen durch. Wie gesagt: eine Frage, kein Ausweg. Haneke betritt das Kino im Jahr 1989 bereits als ,,kompletter“ Filmemacher. Dies erklärt den raschen internationalen Erfolg und die Resonanz, die sein Werk seit damals und speziell seit Benny’s Video (1992) erfährt. Er ist der erste österreichische Spielfilmregisseur der Nachkriegszeit, der als bedeutender auteur wahrgenommen wird; und die äußerst kontroversiellen Debatten über seine beängstigende Gewalt- undMedien-Fuge Funny Games (1997) vermochten diesen Rufnur noch zu festigen. Hin und wieder ist das ,,spezifisch Österreichische“ an Hanekes Werk – mangels direkter politischer oder soziologischer Kommentare in den Filmen – bezweifelt worden. Aber wie läßt sich sonst jene besondere, heimatliche Mulmigkeit, Bockigkeit und Aggression erklären, die ich verspürt habe, als ich 1989 in Cannes zum ersten Mal einen Haneke-Film sah? Woher kam das schreckartige Wiedererkennen des Eigenen im Siebenten Kontinent? Vielleicht ist der Schauplatz von Funny Games nicht zufällig gewählt. Im Salzkammergut, dem Herz der Operette und der Finsternis, rittern sie alle um Mythos und Wahrheit dieses Landes: Thomas Bernhard wie Franz Lehar, Franz Antels singende Mädchen vom Weißen Rößl und Michäl Hanekes höfliche Berserker am Attersee. Ein lustiges Spiel ist das nicht, aber haben wir nicht ohnehin bald genug vom täglichen Froh- und Lustigsein unserer Medien, Märkte und Staatskomödianten?

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 2000