Paul Angerer

Musik

Wissend und sympathisch unbequem

Wenn er zu erzählen beginnt, schwingt bereits ein Stück gewichtiger Musikgeschichte mit. Denn welcher Chorleiter kann für sich beanspruchen, gleich mit einer Vielzahl späterer Weltklassesolisten aufgetreten zu sein? Welchem Geiger glückt es schon, auf einem anderen als dem angestammten Instrument Karriere zu machen und von dort sich auch noch in die sensiblen Dirigentengefilde hochzuziehen, um auch hier erfolgreich zu sein?· Schließlich: Wievielen Musikern ist es gegeben, ihr Publikum nicht nur mit interessanten Zusammenstellungen zu konfrontieren, sondern diese auch noch mit wissendcharmanter Conference zu begleiten? Wenigstens das alles trifft auf den diesjährigen blau-gelben Würdigungspreisträger für Musik, Professor Paul Angerer, zu. Geboren wurde er 1927 in Wien, wo sein Großvater eine durchaus originelle Doppelrolle spielte: Im Tonkünstlerorchester, aus dem dann die Wiener Symphoniker hervorgegangen sind, war er ein geschätzter Klarinettist, darüber hinaus aber setzte er sich noch für die soziale Lage und Stellung seiner Kollegen engagiert ein, was ihn zum gleichsam ersten Gewerkschafter in diesem Genre machte. Er erkannte wohl auch als einer der ersten die spezifische musikalische Affinität seines Enkels, der, kaum fünf, schon die Violine strich, wenig später sich im Klavierspiel unterweisen ließ und sich autodidaktisch das Orgelspiel beibrachte, wofür man ihn bald in einer Wiener Kirche engagierte, die dem dann erst 13jährigen Paul Angerer auch noch die Leitung ihres Kirchenchors übertrug. Wer hier unter Paul Angerer sang? Beispielsweise die Staatsopernlieblinge Waldemar Kmentt und Walter Berry sowie Wiens neuer Volksoperndirektor Eberhard Wächter. Wundert es da, daß Angerer bald an der Schule keinen Spaß mehr fand und sein Wunsch nach einer fundierten musikalischen Ausbildung immer deutlicher wurde? Und das, selbstredend gegen den Widerstand seines Vaters, eines Bankers, der in seinem Sohn lieber doch etwas anderes denn einen Musiker gesehen hätte. Doch auch die Drohung, im Falle schlechter Studienerfolge den Schusterberuf ergreifen zu müssen, nützte da nichts mehr: Angerer hatte sich längst für die Musik entschieden, und wer von einem solchen Wunsch besessen ist, der setzt ihn auch durch. Und zwar so, daß anderes bald nicht mehr auf dem Tapet ist. Womit der Vater bald schon nicht mehr auf die Idee kam, sich nach den Studienerfolgen seines Sohnes zu erkundigen, so evident waren seine Fortschritte. Musikalisch bewältigte Angerer auch noch die ersten Kriegswirren: als Konzertmeister der von Gottfried Preinfalk geleiteten Rundfunkspielschar, die er zeitweilig auch dirigierte. Und schon zeichnete sich der nächste Schritt in Angerers Laufbahn ab: als Geiger der Prager Philharmoniker, die damals unter der Stabführung von Joseph Keilberth standen. Das Probespiel dafür hatte er schon bestanden. Da aber erreichte Angerer 1944 die Einberufung zum Arbeitsdienst. Von dort wurde er zur Wehrmacht überstellt und anschließend in Auschwitz gefangengenommen. Wieder freigelassen, schlug er sich in seine Heimatstadt durch und vollendete hier sowohl an der Akademie wie am Konservatorium seine Studien. Seine schon damals an den Tag gelegte Unbequemlichkeit freilich hätte ihn beinahe an der Reifeprüfung scheitern lassen. Denn obwohl er wußte, daß hiebei Joseph Marx den Vorsitz führen wird, publizierte Angerer zuvor einen Aufsatz, in dem er die romantischen Strömungen in der damaligen Musik sehr aufs Korn nahm, nicht zuletzt auch deshalb, weil ihm die Kriegsjahre hinreichend Gelegenheit geboten hatten, sich auch intensiver mit den damals neuen Tendenzen zu befassen, die allgemein nur wenig bekannt waren. In der Sparte Klavier freilich verzichtete Angerer vorweg auf einen formellen Abschluß, denn dazu hätte es einigen Chopins bedurft, den er einfach ablehnte. Und seine Favoriten Scarlatti und Reger waren wiederum nicht die seiner potentiellen Prüfungskommission. Eine Veranstaltung im Französischen Kulturinstitut, bei der er kurzfristig als Bratscher einspringen mußte, dem dann immerhin ein Wilhelm Furtwängler umblätterte, machte Angerer auf den Mangel an Violaspielern aufmerksam. Also schlug er sich auf dieses Instrument, verdingte sich damit bei den Wiener Symphonikern und reiste 1948 zum Internationalen Musikwettbewerb nach Genf, wo er prompt die Violakonkurrenz für sich entscheiden konnte, um anschließend ein Engagement beim Zürcher Tonhalle-Orchester anzutreten. Weil er hier aber nicht die ihm gemäßen Aufgaben erhielt, wechselte er kurz später zum Orchestre de la Suisse Romande nach Genf, dem damals Ernest Ansermet vorstand, über dessen lmpressionisteninterpretation Angerer auch heute nur in den höchsten Tönen schwärmen kann. Als Anfang der 50er Jahre dann eine Stelle als Solobratseher der Wiener Symphoniker frei war, bewarb sich Angerer, bekam sie und war damit wieder in seiner Heimatstadt. Bis 1957 sollte er diese Position ausfüllen, was ihn in nächsten Kontakt mit Karajan brachte, dem damals die Symphoniker unterstanden. Seinetwegen mußte Angerer auch noch die 57er Saison wenigstens teilweise spielen, obwohl er bereits eine Dirigierverpflichtung größeren Ausmaßes eingegangen war: als Chef des Kammerorchesters der Wiener Konzerthausgesellschaft, was ihn dann bis 1963 beschäftigen sollte. Zwischendurch aber hatte er bereits Theatermusiken für das Wiener Burgtheater sowie die Festspiele in Bregenz und Salzburg zu schreiben, wo er zuweilen auch noch als Kapellmeister wirkte. Dazu wünschte ihn auch das Bozener Haydn-Orchester immer wieder als Dirigent. Gepaart mit solcher Erfahrung sind dann auch Angerers weitere musikalische Stationen keine Überraschung: Erster Kapellmeister am Theater der Stadt Bonn, Musikalischer Opernleiter am Ulmer Theater, Opernchef am Salzburger Landestheater sowie bis 1982 Leiter des Südwestdeutschen Kammerorchesters Pforzheim. Wobei Angerer zeitweilig mehreren dieser Verpflichtungen gleichzeitig nachkommen mußte, man ihn mehrfach für Plattenaufnahmen verpflichtete, er immer wieder auch mit seinen solistischen Qualitäten zu glänzen hatte und es galt, auch noch die Zeit für eine seriöse kompositorische Arbeit zu finden, zumal man weder auf Konzertnoch auf Theatermusiken aus der Feder eines so umfassend gebildeten Praktikers wie Angerer zu keinen Zeiten seiner sonstigen Laufbahn verzichten wollte. Und so stand, um hier wenigstens einige Beispiele zu nennen, Angerer bei den ersten Platteneinspielungen von Guida, Brendel und Klien ebenso am Pult wie bei zahlreichen Aufnahmen mit seltener aufgeführten Bläserkonzerten. Ihm lag an der Wiederentdeckung vergessener Romantik ebenso wie an stilgerechten Barock- und Klassikdarbietungen, und er ließ auch immer wieder Beispiele der sogenannten ,,leichten Muse“ miteinflieBen, womit auch schon einiges über Angerers wahrhaft umfassendes Musikantentum gesagt ist. Und heute? Seit er sich aus Pforzheim zurückzog, hat er sich in Retz angesiedelt und im laufe dieser Umsiedlung die überraschende Entdeckung gemacht, daß sowohl väterlicher- wie mütterlicherseits viele seiner Vorfahren aus eben dieser Gegend stammen. Weiterhin dirigiert Angerer viel in Italien, neuerdings leitet er auch noch ein von seinem jüngsten Sohn gemanagtes Ensemble mit Namen Concilium musicum“, das sich auf Musik des Barock, der Vorklassik und Klassik, dargeboten auf Instrumenten des 18. Jahrhunderts, spezialisiert hat, und ist des öfteren als Sendegestalter im ORF, u. a. im Rahmen der morgendlichen Pasticcios, eingesetzt. Selbstredend, daß auch der Komponist Angerer mit seiner praxisnahen, handwerklich perfekten und stets dem Musikantischen das Wort redenden Schreibweise nicht schweigt und immer wieder durch Aufträge zu Neuem animiert wird. Allerdings: Feste Engagements, wie er sie durch Jahre innehatte, die will Angerer nicht mehr eingehen. Denn hier stört ihn zuviel Bürokratie, das immer wieder Verhandelnmüssen mit den verschiedenen Ensemblevertretungen, die Notwendigkeit, auf Absagen oft in Windeseile zu reagieren und derart überhaupt das Eingebundensein in ein Korsett. So aber hat er nun die Muße, exakt das zu tun, was ihm Spaß macht und seinen so vielfältigen Qualitäten entspricht, wozu auch ein Lehrauftrag für Neue Musik an der Wiener Musikhochschule zählt. Keine Frage, daß Angerer dies auch deshalb Spaß macht, als er in solchem Rahmen auch persönliche Standpunkte vermitteln kann, die nicht immer mit dem Gewohnten übereinstimmen müssen. Denn mit dem obligaten Strom zu schwimmen, war nie Angerers Absicht und kann auch gar nicht dem Naturell eines entsprechen, der so wie er auf beinahe allen musikalischen Gebieten wirklich Innovatorisches einzubringen vermochte.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 1987