Paulus Hochgatterer

Literatur

Zwischen Sehnsucht und Illusionslosigkeit

Preise sind stets eine problematische Sache. Wer entscheidet und nach welchen Kriterien? Der Kleist-Preis, einer der angesehensten in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, wurde jeweils Juror vergeben. Da wusste man, wie man dran war, wer zu wem stand. Nach diesem Modell stiftete seinerzeit auch der ,,Österreichische Schriftstellerverband“ seinen Preis, der freilich nur ein einziges Mal vergeben wurde. Christine Busta, die vom Vorstand des Schriftstellerverbandes in geheimer Wahl zur Jurorin gewählt worden war, erkannte den Preis Paula Ludwig zu.
Nicht minder originell war vor acht Jahren die Idee, bei einem Literaturpreisausschreiben nicht prominente Literaten, Dichter, Literaturwissenschaftler, Schriftsteller, entscheiden zu lassen, sondern Schüler aus der Oberstufe österreichischer Gymnasien. Dieser ,,Literaturpreis der österreichischen Jugend“ ging damals an Paulus Hochgatterer für seinen Kurzroman „Rückblickpunkte“ und an Gerhard Rainer für „Unerweiterte Wege“. Die beiden Romane wurden 1983 in einem gemeinsamen Band vom Verlag des Niederösterreichischen Pressehauses gedruckt.
Die Entwicklung Paulus Hochgatterers, von dem im Vorjahr die Erzählung ,,Der Aufenthalt“ bei Otto Müller erschien, erweist, wie richtig seinerzeit die Entscheidung der jungen Juroren war.
Schon in seiner ersten größeren Arbeit erwies sich Paulus Hochgatterer, der 1961 geboren wurde und in Blindenmarkt bei Amstetten aufwuchs, als subtiler Erzähler, der Inhalt und Ausdruck sehr genau zu wägen weiß, ohne dabei die gefühlsmäßige Basis zu zerstören und den rational nicht erfassbaren Drang zum Schreiben in künstliche Dämme zu zwingen. Im Gegenteil: „Ein großes Muss in meinem Innern“, so bekennt Thomas, die Zentralgestalt in den ,,Rückblickpunkten“, deren autobiographische Züge unverkennbar sind, „peitscht mich nach oben, nach vorne“. Der Satz ist bei Paulus Hochgatterer keine leere Floskel. Kunst, nicht Künstlichkeit ist seine nie direkt ausgesprochene, aber stets gegenwärtige Devise. Er ist ein Realist, der über die Realität hinaussieht. Seine Naturschilderungen führen kraftvoll eine Tradition weiter und ordnen im Sinne des großen Schweizer Kulturphilosophen Carl ]. Burkhardt alles revolutionäre Wesen augenblicklich ein. „Breit stand der Birnbaum da in beruhigender Gewaltigkeit, einladend ausladend, Mutterbaum, Mittagsbaum, Landbaum; Waldersatz, nicht Pseudowald, Wiewald, Möchtegernwald. Dem Auge gibt er Halt, gewährt ihm nicht bloß Punkte, auf denen es balanciert und schließlich doch abrutscht, sondern Flächen, Räume, Höhen, Breiten, Tiefen. Er ist nicht ein Gerippe zum Hindurchblicken kaum ein Hindernis dem Auge. Man kann sich in ihn hineinsehen, wandern in ihm und wühlen, sitzenbleiben in ihm, rasten und die Umgebung Welt sein lassen. Eine Welt ist er selbst. Schließt man die Augen und umfasst seinen Stamm (mütterlich stark ist er, und die Hände finden sich nicht auf der anderen Seite), so spürt man die Pulse, die in ihm auf- und abwogen. Wenn du genau schaust und lange genug, siehst du in seinem Laub alle Farben spielen, die du dir wünschst.“ Selten hat ein junger Künstler in unseren Tagen das Primat der Vorstellungskraft, die Einsicht in das Wesen jenseits aller Berechnungen so sehr betont. Man kann, wenn man wirklich zu schauen fähig ist, alle Farben sehen, nicht nur jene, die dem Objekt anhaften. Dieser scheinbar leicht hingeworfene Satz impliziert einen Aspekt des Mysteriums, eine erstaunliche Parallele zugleich zum Erlebnis, das Harald Zusanek als Gymnasiasten zuteilwurde. Die lakonische Feststellung in einem naturwissenschaftlichen Werk, dass die Farben der Gegenstände nicht deren eigene Farben sind, sondern im Gegenteil die von ihnen abgewiesenen, ließen Harald Zusanek das kosmische Weltgesetz ahnen, dass sich in der Wirklichkeit eine andere verbirgt. Bei Paulus Hochgatterer sind es die Farben, die man wünscht, die den Ausschlag geben und die man sieht. In einer Zeit des Lärmes und des Lärmens hat Paulus Hochgatterer noch – oder sollte man nicht vielmehr sagen, schon wieder? – einen wachen Sinn für jene Stille, die keine ist, die sich aus unzähligen kleinen Geräuschen zusammensetzt und erst durch ein großes zur Wahrnehmung gebracht wird“.
Vorbilder? Nachbilder? Ja, gewiss, man kann sie finden. Einzelne Linien laufen zu Adalbert Stifter, Hochgatterer verachtet die Meister nicht; aber er ist gleichzeitig ein Kind unserer Zeit, ein Mann unseres Jahrhunderts. Im Hirnstamm sitzen ihm auch die Fragen, wie man die Schatten verkaufen konnte, die Frage, wie es möglich war, dass aus Turnbrüdern Nazis (oder Pseudo-Nazis) werden konnten, die ihre Gesinnung für ein Stück braunen Tuches hingaben, die Frage, wie es zu den Ungeheuerlichkeiten der Kristallnacht kommen konnte. Zwischen Blütenträumen, erotischem Erwachen und dem Glücksgefühl, das nur Musik zu erwecken vermag, ein Lehrgang in Geschichte …
Paulus Hochgatterer ist ein sehr genauer Beobachter und ein Fabulierer, ein Diagnostiker, der von der Sehnsucht nach dem Reinen getrieben wird. Man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass er wie eine der von ihm erfundenen Gestalten Mozart und RichardWagner liebt, Parsifal, Lohengrin und Tannhäuser.
Eine Konsequenz seiner Haltung ist seine Liebe zum Hellen, zum Zentralgestirn der Sonne. „Die Sonne“, dachte er, und war überrascht von der Kraft dieses Wortes, eine Einzigkeit, Tüftler zerlegen sie in ein Spektrum, stellen sie mit Orgel und Symphonieorchester dar. In Wahrheit ist sie das Licht, nicht blau plus grün plus rot, nicht c plus g, nicht Akkord, sie ist Ton; Ton, der die Welt umfängt und in währendem Auf- und Abschwellen sie trägt und hält, der bis nahe der Unendlichkeit kreisen wird und Längstvergangenes wiederbringt und die Zukunft vorwegnimmt.“
Schließlich noch etwas Wichtiges, ja Entscheidendes: Paulus Hochgattererläßt sich nicht von Ideologien plattwalzen. Illusionslos, aber ohne Bitterkeit, rechnet er mit einer Gesellschaft ab, die nur ihr Geld, nie aber ihr Herz zu investieren willens ist. Er wehrt sich dagegen, programmiert in einer Welt kalter Sachzwänge eingebunden zu werden, entlarvt die Übergriffe falscher Pädagogik.
Von Beruf ist Paulus Hochgatterer Arztauch darin einer bedeutenden Tradition verbunden, die mit Namen wie Arthur Schnitzler, Hans Carossa, Alfred Dblin, Gottfried Benn und Karl Schönherr gekennzeichnet ist. So wie er als Arzt für die Menschen, für den Menschen da sein will, hält er es auch als Schreibender, sucht er sich an jenen Fragen ,,des Daseins zu messen, die durch jeden Beantwortungsversuch an Tiefe, an Unauslotbarkeit gewinnen, in die man erst durch die Einsicht der eigenen Erfolglosigkeit ein winziges Stück vorstößt“.
Ganz in diesem Sinn zeigt die jüngste Prosa von Paulus Hochgatterer, dass er an Distanz gewonnen hat, ohne die Kraft seines Enthusiasmus einzubüßen. Und das ist viel, ist sehr viel.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 1991