Der stille Wanderer
New York, Sommer 1980: Ein Geologe flaniert durch die Avenuen, die krummbuckelig und granitgepflastert, die flachen Hebungen und Senken des felsigen Untergrunds mitschwingen. Irgendwo auf seinen ziellosen Wegen von „downtown“ nach „uptown“, an einer jener Stellen, wo die Querstraßen zwischen hochtürmenden Häuserfronten kreuzen, eine Cola-Dose plattgewalzt, halb versunken im heißen Asphalt: hellblinkender Stern zwischen tiefeingeschnittenen Kerben und Schrunden; Schrammen und Mulden hier, Verwerfungen dort; eine Paß höhe da – all dies erinnert ihn an Formationen jenes bolivianischen Hochlandes, wo er die letzten zwei Jahre verbrachte, fernab jeder Zivilisation … Später dann, eine Erzählung von Handke im Schaufenster einer Buchhandlung: sie war bereits im Jahr davor erschienen: Er geht hinein, läßt sich das Buch zeigen, blättert darin, kauft es schließlich. Vielleicht war es noch in einem der ,,Coffee Shops“,vielleicht aber auch schon in Wien: Er hatte gelernt, Bücher, aber auch alltägliche Geschehnisse wie geologische Karten zu lesen. Es handelt von einem Geologen und dessen langsamer Heimkehr aus den Ödnissen Alaskas ins heimatliche Europa: ,, … in das Interesse an den langzeitigen Naturräumen hatte sich eine Betroffenheit durch Raum-Formen eingemischt, die gleich wo (nicht allein in der Natur) sich bloß episodisch bildeten, indem ich, Steiner, sozusagen ihr Augenblick wurde, der sie zugleich zu Zeit-Erscheinungen machte. Vielleicht war es jener Satz gewesen, der ihn später dazu gebracht hatte, dem Autor zu schreiben, vielleicht auch ein völlig anderer. Jedenfalls sollte eine langdauernde Freundschaft daraus werden. 1994, in seinem Buch ,,Der Brunnen des Columbus“, gibt Steiner bereits einen Fingerzeig: „Um einmal den gleichmäßig feinen Wechsel von hell und dunkel gefärbtem Ton wirklich mit den Händen zu begreifen, hielt er Daumen und kleinen Finger an das kühle Gestein und flüsterte: ,Zeitspanne‘ und ,Erdzeitalter‘. Die Breite seines Fingers allein entsprach der Lebenszeit vieler Geschlechter. Sein Arm ruhte wie über einem offenen Buch, wenn auch ohne das Auf und Ab einer Schrift. Ohne Schlingen und Haken wurde hier eine Weltnachricht überbracht, eine Kunde, älter als alle Sprachen. Daher gab es auch nur eine Art, sie zu lesen. ,,Felsner, der Held der Erzählung, war aufgebrochen von seinem Heimatort, wo die Menschen ,,ohne Träume, zu Tode beschäftigt“ dahindämmerten, um neue ,,Wege des sinnvollen Schauens“ zu gehen. Eine Reise, die ihn endlich auf eine Insel am westlichen Rand der Alten Welt führte. Wäre es womöglich deren Wasser gewesen, mit welchem an Bord seiner Schiffe Columbus das erste Mal Amerika betrat? Schließlich findet er einen alten Brunnen in Küstennähe; doch die Frage bleibt letztlich unbeantwortet. Und obgleich im ,,Brunnen des Columbus“ noch der Hang des studierten Geologen zum Tellurischen, zum Chthonischen den Schriftsteller Steiner dominierte, leuchtete hier doch eine erste Ahnung einer symbolischen Weltschau auf, die in seinen späteren Werken vollends durchbrechen sollte: Jene Fähigkeit zu einer Kosmogonie im Kleinsten, die den flüchtigen Moment einer zufälligen Begegnung, das scheinbar Nebensächliche, den Fund eines Sch necken ha uses oder das ,,löchrige Gerölle“ auf dem Sockel eines jüdischen Grabsteins als Chiffren des Ewigen erkennt und diesen überwältigenden Eindruck in einer klaren, poetisch-gelassenen Sprache vermittelt, wie etwa in der Erzählung „Die Lichtung“, die 1995 erschienen ist. Auch hier klingt wieder das Motiv der Weltentdeckung, des „Erfahrens“ von Welt, an, die Geschichte eines Aufbruchs und einer Rückkehr und sei es auch nur für die kurze Weile eines Zwischenaufenthaltes, des Wartens bis zum nächsten Anschlußflug. Es ist eine Reise, die von jener kleinen Waldlichtung oberhalb des großväterlichen Hauses ihren Ausgang genommen hat und dorthin wieder zurückkehrt, mit dem melancholischen und zugleich heiteren Gefühl, jederzeit wieder aufbrechen zu können: ,,Stell Dir vor: eine Lichtung im Wald, die du in jede Richtung verlassen kannst, ohne über einen Zaun zu steigen.“ Auf den ersten Blick ein stark autobiographischer Text, stellt er aber doch bei näherem Hinsehen einen ähnlichen ,,Versuch der Fixierung einer symbolischen Metastruktur für das scheinbar“ Disparate dar, den man einem Ahnherrn Steiners, nämlich Herman Melville attestiert, wie er in dessen Prosa-Skizze ,,The Encantandas or Enchanted Isles“ (erschienen 1854) zum Ausdruck kommt. Wo der Erzähler, der die verwunschenen Eilande der „Gallipagos“ bereist hatte, bekennt, daß ihm noch lange nach seiner Rückkehr, ,,bei Festlichkeiten im Kerzenschimmer in altmodischen Herrnhäusern“, vorkam, als sähe er aus dunklen Winkeln ,,den Geist einer riesigen Schildkröte langsam auftauchen und schwerfällig über den Fußboden kriechen, auf dem Rücken in glühenden Buchstaben: ,Memento* * * * * * ! „‚ Es mag vielleicht eben dieser Grenzgang, dieses Ba lancieren auf dem messerscharfen Grat zwischen Fakten und Fiktionen sein, aus dem Steiners Prosa ihre beinahe unglaubliche Dynamik gewinnt, die einen als Leser förmlich in ihren Bann zieht; doch vielleicht sind es auch diese harten abrupten Schnitte, dieses in die Sprache übernommene filmische Stilmittel des jähen Wechsels zwischen Nahaufnahme und Totale, die immer wieder an Melville e ri n n e rt. So gesehen könnte Steiner a ls einer der wenigen deutschsprachigen Literaten gelten, die einen Vergleich mit jenen großartig en Reiseschriftstellern nicht zu scheuen brauchen, für die der angelsächsische und a meri ka nische Kulturraum bislang beinahe sprichwörtlich geworden ist: zwei Namen zeitgenössischer Autoren sollten hier genügen, nämlich Bruce Chatwin und Paul Theroux. Ihnen allen ist eines gemeinsam:jenes eherne Formgesetz, ,,daß das Verhältnis von faktischer Weltdokumentation und symbolisch-allegorischer Verständnisüberhöhung so angelegt sein muß, daß die erstere als gegeben bestehen bleibt, während die letztere sich als Endzweck erfüllt“ (Manfred Pütz). Und auch in seinem jüngsten Werk, ,,Im langen Schatten“, erschienen 1996, folgt Steiner diesem eingeschlagenen Pfad: Einer, ,,der vom Landvermesser allmählich zum Ethnologen und Kenner entlegener Völkerstämme“ geworden war, besucht seinen Bruder, der sich irgendwo in der Neuen Welt, an einem Ort ,,mitten im Nichts“ angesiedelt hat. In dieser hügeligen Gegend, deren verlassene Äcker allmählich wieder der Wald überwuchert, hilft er dem Bruder bei der Feldarbeit. Später dann würde er aufbrechen, um die ,,rituellen Gesänge der Lakandonen an die Götter des Regenwaldes“ aufzuzeichnen. So bleibt er einen Sommer lang in jenem Tal der Gestrandeten. In diesem halbverfallenen, verödeten Nest, in dem ein altes Ehepaar aus Ostp re uß en, Krieg sve rtrieben e, seinen Lebensabend in einem verrotteten Hotel verbringt; oder ,,Monsieur Fresnard“, der im völlig verwahrlosten Nachbarhaus, inmitten ,,seidener Dessous, feinster Strümpfe, Höschen und durchsichtiger Negligees“ den Zeiten vor dem Tod seinen Geliebten nachtrauert: ,,Ja, Gestrandete hausten hier, so kam mir vor, in diesem Dorf, wie in den Nachbardörfern, im gesamten Hinterland der Küste, deren große Städte die Wellenbrecher waren, an denen die immerzu über das Meer Kommenden anbrandeten und ihre Kraft versprühten, bevor sie abgedriftet in den Rücken der Wälder, wo nur etwas feuchte Luft und warmer Regen bisweilen daran erinnerte, daß es ein Meer gab, ihr Leben beendet.“ Und auch hier sind die Menschen, die hier hausten, ebensolche Ausgestoßene oder Gestrauchelte wie etwa der ,,Eremit Oberlus“, der ,,Hundekönig“ oder „Hunilla“, die unglückselige ,,CholaWitwe“, die Melvilles „Encantadas“ bevölkern. Und doch, trotz aller Kargheit, aller Tristesse dieser Umgebung, ist es der ,,lange Schatten“ ihrer gemeinsamen Vergangenheit, der die Brüder einander verbindet: ,,Vielleicht, dachte ich, mußte man wenigstens einmal, und sei es für Augenblicke, ein großes Ziel gemeinsam gehabt, einen Traum geteilt haben. War nicht in diesem Sommer manchmal etwas angeklungen, das, wäre es früher geschehen, uns zusammenschweißen hätte müssen? Ich dachte an den wilden Senf im Hafer. Das Bild der beiden gebückten Männer, Seite an Seite in dem großen Feld, aus der Entfernung nicht voneinander zu unterscheiden, wurde mir mehr und mehr Sinnbild der Bruderschaft.“