Des Menschen Würde dauert fünfzehn Minuten
Peter Turrini ist ein Menschensüchtiger, ein die Menschen Suchender. In seinen Stücken versammeln sich die Alleingelassenen, die Sprachlosen, die Wohlstandsverlierer. Die Putzfrau und der Nachtwächter in seinem Welterfolg «Josef und Maria», der alte Kinobesitzer in «Die Liebe in Madagaskar», die Polin und der nigerianische Schubhäftling in «Ich liebe dieses Land», die von der Kündigung bedrohten Stahlarbeiter in «Die Minderleister». All diesen Figuren –und vielen mehr – gibt Turrini ihre Würde wieder, gibt ihnen auf der Theaterbühne zurück, was ihnen die öffentliche Wahrnehmung verwehrt. Oder, um ein Zitat von Andy Warhol abzuwandeln, nicht das Recht auf fünfzehn Minuten Berühmtheit gesteht ihnen Turrini zu, sondern das Recht auf fünfzehn Minuten Würde. Die Würde der Menschen liegt in ihren Sehnsüchten und Träumen. Für einige Momente werden deren Vorstellungen, die immer mit einem Gegenüber, einem Menschen, und nie mit materiellen Dingen zu tun haben, Wirklichkeit. Die Figuren begegnen einander, berühren einander, kommen einander näher, meist in einem Abbild von Familie, einem harmonischen Sein von Vater, Mutter und Kind. Turrini denunziert seine Figuren nie, auch nicht die absonderlichsten. Mit seiner Haltung, seinem Festhalten an diesen Menschen, riskiert er, selbst lächerlich zu werden, als antiquiert zu gelten in einer Welt, in der zusehends alles zum Event verkommt, zum Erlebnis, zum vermeintlich Unpolitischen. Wohlgemerkt, lächerlich –manchmal – bei einem satten, allwissenden Feuilleton, das so gern Wortkaskaden, Textflächen und Experimente hätte; nicht jedoch beim Publikum. Jeden Abend wird an vier Orten irgendwo auf der Welt Turrini gespielt. Die Menschensucht hört bei Peter Turrini aber nicht auf der Bühne auf, sondern sie setzt sich fort im Privaten. Manchmal gleicht sein kleines Winzerhaus einem Theater und Begegnungen finden hier statt, die sonst nicht stattfinden würden. Wenn alle um den großen Tisch im Presshaus sitzen, wenn sie für ein paar Stunden zu einer selbst gewählten Familie werden, bleiben die Masken draußen, die Verstellungen und die Eitelkeiten. Weinbauern, Handwerker, Schriftsteller, Lehrer, Politiker, Laute und Leise, Berühmte und Unbekannte. Wer ist wer? Vor vielen Jahren schufen Berner/ Pevny/Turrini den größten internationalen Erfolg einer ORF-Produktion, «Die Alpensaga», der damals aber auch heftigste Ablehnung widerfuhr, unter anderem vom Bauernbund, dessen damaliger Chef Sixtus Lanner war. Dessen Sekretär wiederum war Erwin Pröll. Im Jahr 2000 lud eben dieser Erwin Pröll, mittlerweile Landeshauptmann geworden, Peter Turrini ein, die Festansprache am niederösterreichischen Landesfeiertag, dem «Heiligen Leopold», zu halten. Turrini sagte zu und hielt – zur Überraschung der auf einen Eklat gefassten Zuhörerschaft – eine Rede, die eigentlich einer der vielen anwesenden Politiker schon längst irgendwo hätte halten müssen. Er ergriff – wie schon in der «Alpensaga» Partei für die Bauern, denen ein schändlicher Weinpreis den Stolz, die Würde nimmt. Im November 2003 überreicht Landeshauptmann Erwin Pröll den niederösterreichischen Würdigungspreis für Literatur an Peter Turrini. Womit nun jener, dessen lebenslanges Thema die Würde des Menschen ist, endlich und zu Recht, ein wenig von dem zurückbekommt, was er gegeben hat.