Renate Welsh

Literatur
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Wege aus dem Fremdsein

Seit 1970 schreibt Renate Welsh Kinder- und Jugendbücher; so steht es in ihrer Biografie. Zusatz: Und auch Bücher für Erwachsene.
Wo, frage ich mich, wo liegt da der Unterschied?
In der Welt von Renate Welsh nämlich verwirklicht sich, wundersam und unerklärlich, dieses scheinbare Paradoxon, nach dem wir uns alle sehnen: Kind sein und erwachsen, simultan. Das «Mittendrinsein» unserer frühen Jahre, so dicht, so ernsthaft, so bedingungslos, verbindet sich in den Büchern von Renate Welsh mit jenem überblickenden Durchdringen und Verstehen unserer späteren Jahre, dessen Abwesenheit die frühen Jahre so schmerzhaft macht, aber auch so intensiv, wie es uns danach nie wieder vergönnt ist. Die Welt von Renate Welsh fließt; im Fluss bleibt für den Erwachsenen der Urquell der Inspiration spürbar, für den heranwachsenden Menschen eine Vorahnung der Mündung.
Wie sie es macht, kann sie nicht erklären, weil sie es nicht macht. Ihre Geschichten sind Fügung. Gedanken, Gefühle, Geschehnisse fügen sich lebendig zu Worten, zu Sätzen, Geschichten, selbstverständlich, klar, genau, kein Wort zu viel. Die wirkliche Welt recherchiert sie akribisch, besessen, bis zur vollkommenen Einverleibung, um eine fiktive Welt entstehen zu lassen, die noch wirklicher ist und noch lebendiger.
Renate Welsh schreibt das Gegenteil von Road-Movies, sesshafte Geschichten, in denen Landschaft, Milieu und Zeit die Menschen unerbittlich prägen. Die zentralen Figuren sind fast immer Frauen in verschiedenen Phasen ihres Lebens; Männer bilden Hintergrund, Anlass, Aufhänger, Widerpart, nicht mehr. Doch es wäre falsch, das Grundthema vonRenate Welsh nur unter dem Mann-Frau-Aspekt zu verstehen; das Grundthema heißt: Emanzipation. Die Frauen in Renate Welshs Büchern nämlich emanzipieren sich in einem höheren Sinn als dem oberflächlich, trivialisiert missbrauchten. Statt missliche Wirklichkeit modisch effektvoll zu spiegeln, anzuklagen, Feindbilder selbstgefällig, selbstmitleidig zu plakatieren, gelangen diese Mädchen und Frauen zu echter Freiheit. Aus eigener Kraft entwickeln sie Wege und Auswege, befreien sich einerseits aus ihrem «Fremd-Sein» in der Welt: anders, nicht dazugehörig, unerwünscht, unehelich, unschön, unnötig; befreien sich zugleich aus ihrem «Fremd-Bestimmtsein»: aus existenzieller, sozialer, mentaler Abhängigkeit. «Johanna», z. B. die Uneheliche, beinahe Leibeigene, führt einen aussichtslosen Kampf um ein selbstbestimmtes Leben – und gewinnt. Oder Rosa, die Heldin in «Die schöne Aussicht». Sie wächst in der Gewissheit auf, sie, das peinliche Kind einer Fünfzigjährigen, hätte nie geboren werden dürfen. Und doch erleben wir, wie sie Stück für Stück Selbstwert aufbaut. Oder «Dieda oder Das fremde Kind». Ihr «Sichfremdfühlen» geht bis zur Leugnung des eigenen Namens. Am Ende erobert sie sich diesen Namen aus eigener Kraft zurück. Oder die alte Frau Lizzi. Sie setzt sich über Vorurteile und gesellschaftliche Zwänge hinweg, um mit dem kleinen «Vamperl» ihre Mission zu erfüllen: den Menschen das Böse aus der Galle saugen.
«Unbedeutende» Menschen jeglichen Alters packen sich am eigenen Schopf und vollbringen Außergewöhnliches, lösen sich aus falschen Abhängigkeiten, gehen echte Bindungen ein, entwickeln ihr «Besonderssein». Zugehörigkeit finden und zugleich sich selbst – das ist der Weg in die wirkliche Freiheit.
Renate Welsh, 1937 in Wien geboren, studierte Fremdsprachen. Seit 1970 hat sie mehr als 70 vielfach preisgekrönte Bücher veröffentlicht. In Schreibwerkstätten versucht sie, Menschen zu helfen, mit Hilfe von Sprache Wege aus dem «Fremd-Sein» zu finden. Sie lebt in Wien und im niederösterreichischen Hilzmannsdorf, Schauplatz eines ihrer bekanntesten Romane «Johanna». Dort, wo Einheimische die Menschen in Einheimische und Zugereiste einzuteilen pflegen, hat man eine dritte Kategorie eingeführt: die Welsh.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 2006