Wiener Musik
«Floridsdorf-Village, das ist der ‹Soul› meiner Kindheit, der mir noch heute nachhängt.» Wer «Floridsdorf» und «Village» als zusammengesetzte Ortsangabe seiner frühen Jahre mit dem Gefühl des «Soul» verknüpft, hat bereits die Pole seines künstlerischen Lebens definiert: Nicht mehr als Wien und nicht weniger als die ganze Welt werden in einem prallen, ungeheuer produktiven Künstlerleben Kraftquellen und kreative Reibebäume sein. In musikalische Genres übersetzt, trifft somit das Wienerlied auf den Blues, der Schrammelklang auf den Sound des Jazz. «Floridsdorf-Village»: ein Liedtitel bereits, ein Song in Kürzestform als Code für ein 1950 beginnendes Musiker-und-Sänger-Leben.
«Und da war die Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung zu viert, manchmal zu fünft: meine Mutter, Sonderschullehrerin, mein Vater, Maler, Bildhauer und Gelegenheitsarbeiter, mein kleiner Bruder Peter und die Großmutter, die damals am Fließband stand und die Resopalgehäuse der Minerva-Radios polierte. Mit der Mittagssirene erschien der Vater, voll mit dem weißen Bakelitstaub aus der Fabrik, und setzte sich an die Staffelei. Es roch nach Ölfarben, deren ausgequetschte Tuben am Boden zerstreut lagen.» Das beengte Biotop atmet die Kunst, riecht förmlich nach ihr: Aus der räumlichen Enge in die künstlerische Weite geblickt, die eigene Sozialisation somit als Aussichtsturm für Weitblick, nicht als Beschränkung, jedoch als ästhetisch prägend begriffen, wird ein Werk entstehen, welches sich bislang in zirka 400 Liedern für Duo- und Schrammelbesetzung, unzähligen Tänzen und Walzern, Orchesterwerken, Theater-, Film- und Hörspielmusik sowie zwölf LPs und CDs niederschlägt.
Es begann mit dem Auftritt im Wiener Wurstelprater. Dort war eine Teenager-Party im Gange. Ich war zu schüchtern, um zu tanzen, und so war es klar, dass ich meine ‹Klampfe› mitbrachte und den Freunden zum Tanzen einheizte.
Wenige Jahre nach dieser Überwindung der Schüchternheit durch gitarristische Bravour werden 1974 die Neuwirth-Schrammeln – später Extremschrammeln – gegründet, die seither als zentrales Ensemble und künstlerischer Mittelpunkt von Neuwirths reichem Schaffen kontinuierlich auftreten. In Hernals, Wien, Österreich, Europa, Amerika. Doch zuvor geht ein junger Mann mit musikalischen Visionen und starkem Willen seinen mäandernden Weg aus einer Werkstatt auf die Bühnen:
Die Gitarre hatte ich täglich in der Arbeit mit. Die Setzereikollegen waren es auch, die mich darin bestärkten, doch endlich Musiker zu werden und mein trauriges Galgenvogeldasein in der Partezetteldruckerei zu beenden. Das Problem war nur, dass ich nicht Noten lesen konnte.
Neuwirth, bereits Vater, lernt diese Noten, übt Tag und Nacht Gitarre, wird Musikstudent und hält sich mit einem kargen Stipendium und kleinen Auftritten über Wasser. Endlich die eigenen Ideen umzusetzen, sich zu vertiefen in ein damals museales, vornehmlich dem touristischen Zweck untergeordnetes und ansonsten vergessenes, ja verleugnetes Genre – das Wienerlied und die Schrammelmusik – ist ihm jedes Risiko wert.
Ich suchte nach alten Aufnahmen, grub mich durch sämtliche Notenarchive und fand faszinierende ‹Weanatanz›, die mit Besessenheit studiert wurden. Es tat sich eine neue Welt auf …
Eine bis heute andauernde Reise beginnt. Ein Suchen, Finden und Verwerfen, Wiederentdecken, Üben, Neu-Beleben, Radikal-Erneuern, Vom-Kitsch-Befreien. Seither entstammen Neuwirths Feder jene neuen und oftmals genialisch mit dem Blues und Jazz vermählten Lieder, deren poetische Lyrik im Wiener Dialekt – den viele als nuancenreiche Quelle des Erzählens nicht mehr kennen und können – von heute, hier und jetzt berichten: böse und zart, düster und hell, nie verklärend, nie behübschend. Dass damit über Jahre eine ganze Phalanx an Feinden auf den Plan gerufen und konsequent Heurige «leergespielt» werden, ist logische Reaktion einer damals operettenhaften Szene auf die Kunst jenes Sängers, Dichters und Kontragitarristen, der von seinem Waldviertler Wohnsitz Mostbach aus seit Jahren das Musikleben Niederösterreichs bereichert und die Türen aufgestoßen hat für Generationen jüngerer Musiker, die wienerische Musik lebendig weiterentwickeln.