MIT WACHEN SINNEN
Vor allem Schreiben steht das Fabulieren. Und vor dem Fabulieren stehen zumeist Erfahrungen, deren Intensität den Rahmen des Persönlichen sprengen. Die Ängste der Kinder sind solche Erfahrungen, die Einsamkeiten, in die sie eine Welt stürzt, die übergroß, überwältigend und unerklärt ist.
Angst und Einsamkeit des Kindes stehen auch am Anfang von Rotraut Hackermüllers Schreiben. 1943 wurde sie als ältestes von vier Mädchen im bombenüberschütteten Wien geboren. „Bombenüberschüttet“ lauten die ersten Erinnerungen ohne präzise Details. Aber sie sind da, vom Schutt und den Beschwernissen der Nachkriegszeit überdeckt, ohne gelöscht zu sein. Elf Jahre später übersiedelt die Familie nach Schloss Gumpenstein in Irdning, wo der Vater, Genetiker und Pflanzenzüchter, die Bundesversuchsanstalt für alpenländische Landwirtschaft leitet.
In der Dienstwohnung der Eltern im weitläufigen Schloss sind die vier Mädchen öfters allein. Das alte Gemäuer, der Blick auf den Grimming verführen die Phantasie der Kinder. Was leblos scheint, wird plötzlich lebendig. Dem Vernehmen nach geistert es im Schloss. Aus den Schatten und Nischen tritt allerlei Beängstigendes. Kobolde rühren sich, der Wind spricht. Und Rotraut erzählt, was er spricht, erzählt gegen die aufkeimende eigene Angst, die nicht erlaubt ist und spricht gegen die Angst der Schwerstern an, für die sie sich verantwortlich fühlt.
Die Erfahrung, dass sich das Schreckliche im Benennen bannen lässt, ist für das spätere Schreiben die erste wichtige Erfahrung. Sie -128-führt konsequenterweise zu einer genauen Sprache. Nicht irgendein Name bannt die Gespenster, es muss der ihrer Gestalt entsprechende Name sein.
Die anderen Lehrmeister heißen Natur und Vater. Der genaue Blick des über alles geliebten Vaters schärft den Blick für die über alles geliebte Natur, die das heranwachsende Mädchen mit großer Sensibilität in sich aufnimmt. All das – Gespenster, Naturerlebnis und väterliches Vorbild- legen den Grundstein für eine genaue Sprache, geduldige, realistische Beobachtungen und für Geschichten, die beinahe zärtlich ,,die Augen für das anscheinend Unscheinbare öffnen“ sollen.
Genauigkeit und Geduld, Realitätssinn und Zartheit zeichnen alle späteren schriftstellerischen Arbeiten Rotraut Hackermüllers aus, der Weg in die Öffentlichkeit ist allerdings ein Umweg. Die Vierzehnjährige tritt in die Höhere Bundeslehranstalt für landwirtschaftliche Frauenberufe ein, schließt diesen Bildungsweg ab, absolviert ein pädagogisches Seminar und besucht die Kunstakademie.
1966 heiratet sie. Die Ehe, aus der zwei Kinder stammen, hält nicht lang. Um sich und ihre Kinder zu versorgen, arbeitet Rotraut Hackermüller tagsüber zuerst in einem Agrarverlag, dann in einer Realitätenkanzlei, in einer Pflanzenvertriebsfirma, im Sozialdienst der Stadt Wien, wird später Berufsschullehrerin in einer Berufsschule für Einzelhandel. In den Nächten malt und schreibt sie.
Die Nähe von Bild und Sprachbild, die sich auch jetzt noch in ihren Geschichten und Gedichten erahnen lässt, macht die Wahl schwer. 1977, gerade nach einer erfolgreichen Ausstellung- sie verkauft mehrere Bilder-, entschließt sie sich, das Malen bleiben zu lassen, „überdrüssig des Dahindilettierens“, wie sie sagt. Schonung der eigenen Person ist nicht ihre Sache.
Nach zwei Gedichtbänden gelingt der erste große Wurf als Schriftstellerin: „Das Leben, das mich stört“, im Peter Kirchheim-Verlag (München) 1990 erschienen, behandelt Franz Kafkas letzte Jahre. Die Einführung bei der Präsentation des Buches hält Hans Weigel, der es enthusiastisch bespricht. Unter dem Titel ,,Kafkas letzte Jahre“ wird es 1990 im Peter Kirchheim Verlag neu aufgelegt.
Die bislang einzige Biographie Roda Rodas stammt von Rotraut Hackermüller, 1986 im Herder Verlag unter dem Titel ,,Einen Handkuß der Gnädigsten“ erschienen. Es folgt im gleichen Jahr eine Biographie Josephine Allmayers, einer Scherenschnittkünstlerin aus Niederösterreich. Rotraut Hackermüller schreibt den Begleittext zu Hermann Härtels Kunstmappe „Die Wachau“. Sie veröffentlicht in in- und ausländischen Zeitschriften, im Hörfunk, schreibt zahlreichen Essays und ist auch als Herausgeberin tätig (,,Planschbecken“), Texte aus einer Schreibwerkstatt der Wiener Schulgemeinde). Sie „erfindet“ eine der ersten Schreibwerkstätten, lang ehe sie in Mode kommen. Ihre Texte werden in zahlreiche Anthologien aufgenommen und in mehrere Sprachen übersetzt.
Die nicht mehr gemalten Bilder gehen Schritt für Schritt in Wortbildern und Naturschilderungen auf, wie etwa in der Geschichte ,,Der Radfahrer und die Fasene“ aus dem 1992 bei Herder erschienenem Erzählband „Gewitter“. Geschichten, die über ,,Schicksale zwischen Erlösung und nicht steuerbarer Ausweglosigkeit“ erzählen, wie Helmut Niederle schreibt und die ,,von ihrer tiefen Verbundenheit mit der gequälten und erniedrigten Existenz zeugen“.
Schweben, sehen, hören, lauschen sind die leitenden Wörter, die zentralen Begriffe von Rotraut Hackermüllers Erleben. Sprache wird nicht gedacht. Geschichten werden nicht erfunden. Ein Wort tritt auf und öffnet das Tor zu einem besonderen Gefühl. Und aus dem Gefühl tritt allmählich die Gestalt einer Geschichte, eines Gedichtes. Das Gefühl umschwebt das vom Unsichtbar werden Bedrohte, rettet es zurück im Lauschen, im Hören, erschaut es neu und rettet es damit für andere.