Rudolf Pietsch

Volkskultur und Kulturinitiativen
Image

Grenzgänger und Grenzüberschreiter

Eine schillerndere Persönlichkeit lässt sich schwer finden: ein bewegter und bewegender Mensch, der stets mit unvorhersehbaren, gar unglaublichen Reaktionen sein Gegenüber überrascht, wendig und pointiert formuliert, musikalisch wie verbal, mit unverwechselbarem charakterlichem wie physiognomischem Profil – das und vieles mehr ist Rudi Pietsch.
Wenngleich er tief verwurzelt ist in seiner Heimat Niederösterreich, gleich einem 60 Jahre alten Rebstock, ist sein Zuhause eigentlich die Welt. Ein Grenzgänger ist er, ein Grenzüberschreiter. Under denkt grenzenlos. Sein freidenkerischer Geist, umspielt vom Ostinato der heimatlichen Verbundenheit, prägt sein Leben und Schaffen in vielfältigen Wirkungskreisen.
Der Geiger. Seine geigerischen Qualitäten hat er in frühen Jahren in der Familienmusik entwickelt, während weiterer musikalischer Allianzen in seiner Sturm-und-Drang-Zeit ausgebaut und preziös geschliffen als Primas der «Tanzgeiger», die er ins Leben gerufen hat. In mittlerweile mehr als drei Jahrzehnten Lebens- und Musikgeschichte der Tanzgeiger haben sich die Instrumentierung, das Repertoire und die Besetzung gewandelt. Konstant geblieben sind die Vertrautheit mit den eigenen musikalischen Wurzeln und die Hellhörigkeit für das Fremde. Auf unzähligen Reisen durch die ganze Welt hat sich ihre Musik aus Österreich als unmissverständliche Sprache bewährt. Sie präsentieren sich kraftvoll, virtuos, mitreißend, feurig, verrückt, stets authentisch und mit einer gehörigen Portion Selbstironie.
Der Wissenschaftler. In Wien hat er Schulmusik studiert und ist später als lehrender Wissenschaftler am Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie der Universität für Musik und darstellende Kunst ebendort tätig geworden. Als Überbringer von Volkskulturpaketen, die er im Rahmen von leidenschaftlich begangenen Feldforschungen und Exkursionen in diversen Regionen Niederösterreichs, Österreichs und Ländern der Welt bunt befüllt hat mit gesammelten Tänzen, Bräuchen, Melodien für jeden Anlass im Leben, steht bei ihm die Anwendbarkeit dieser Inhalte stets im Vordergrund. Er hat sie bis heute an zirka 4.000 Studierende – ihrerseits Multiplikatoren – weitergereicht mit dem Auftrag, nie nur Teilaspekte dieser Inhalte zu betrachten, sondern sie als Ganzes im großen Zusammenhang zu sehen und durch Innenansicht zu verstehen. Eine Welle schlägt eine Welle schlägt eine Welle …
Das musikalische Vorbild. Als Mann der ersten Stunde der legendären Musikantenwochen in Großrußbach hat er vor Jahrzehnten Umwälzungen in Sachen Interpretation österreichischer Volksmusik ausgelöst durch seine sprühende Animation zum Auswendigspielen. Hier trafen musikbegeisterte Laien mit professionellen Musikerinnen und Musikern zusammen, Kinder mit Pensionistinnen und Pensionisten, quer durch alle Gesellschaftsschichten. Hier und während anderer unzähliger Musikseminare hat er seinen ganz persönlichen Stil, die spezielle Mischung von Arrangement und Freiheit, an klaren Regeln in der Melodieführung und ihrem lustvollen Verletzen, weitergegeben. Nicht als Kopieranleitung, sondern mehr als eine Grundtechnik, sich in Freiheit ästhetisch zu bewegen.
Ein Motor, ein Macher, ein Anreger, ein Verbandler ist er. Viele Musikerinnen und Musiker hat er zu Ensembles zusammengeführt und gecoacht, die heute aus der österreichischen Kulturszene nicht mehr wegzudenken sind. Er ist mitverantwortlich für die Entstehung des Weltmusikfestivals «glatt & verkehrt». Für Radio Niederösterreich hat er Sendungen programmiert und verfasst und so für die Verbreitung von Volksmusik aus Niederösterreich gesorgt. Für den Konzertzyklus «Musikanten» im Wiener Konzerthaus ist er Kurator. Sein Urteil als Juror wird bei Volksmusikwettbewerben landauf, landab hoch geschätzt. Als Herausgeber etlicher Notenhefte und wissenschaftlicher Publikationen hat er unzählige Tanzmusikstücke vor allem niederösterreichischer Abkunft ins Leben zurückgeholt. Abertausende Zuhörerinnen und Zuhörer seiner Konzerte hat er als Meister der Stegreifmoderation begeistert durch die geniale Verquickung von ethnologischem Wissen und bester Unterhaltung.
Rudi Pietsch ist ein Phänomen. Er ist der Brennstoff, der sich selbst verzehrt und dabei stets erneuert. Möge das zeit seines Lebens so bleiben!

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 2012