Sandra Gugić

Literatur
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Zorn und Stille

In ihrem zweiten Roman Zorn und Stille beleuchtet Sandra Gugić die Geschichte einer jugoslawischen Gastarbeiterin- und Gastarbeiterfamilie in Österreich. Es ist ein multiperspektivischer Roman, der die verschiedenen Blickwinkel der einzelnen, sich zunehmend voneinander distanzierenden Charakterinnen und Charaktere zulässt. In mehreren, zeitlich versetzten Episoden wird die fortschreitende Entfremdung der Familienmitglieder langsam ausgebreitet.

Der Tod des Vaters und die damit einhergehende Reise zum Begräbnis nach Belgrad wird zu einem Ausgangspunkt für die in Erinnerungen gepackten Handlungsstränge, ebenso wie das spurlose Verschwinden des Bruders. Mit größter Empathie für die Figuren werden die prekären Arbeits- und Wohnverhältnisse, die Sprachlosigkeit der Elterngeneration sowie der endgültige Verlust der zurückgelassenen Heimat durch die Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren thematisiert. Der Autorin gelingt es damit, eine noch wenig beachtete Perspektive auf die Geschehnisse am Balkan und deren Auswirkungen in den Fokus zu rücken.

Die Bedeutung des Bildhaften ist nicht nur durch die zentrale Figur der Fotografin, einer unsteten, heimatlosen Beobachterin und Ich-Erzählerin, stets präsent, sondern wird auch auf der Textebene verhandelt. Die bei den Leserinnen und Lesern evozierten Bilder werden im Roman stets mitgedacht und als solche immer wieder markiert – auch jene, die nicht festgehalten werden. „Ich zählte das zweite Bild des Tages, das ich nicht fotografierte“, stellt die Protagonistin nach der Beschreibung einer spezifischen Begebenheit fest.

Gugić gelingt mit der genauen Darstellung der Innen- wie auch der Außenwelt eine sehr bilderreiche Sprache, die trotzdem stets klar und prägnant bleibt und niemals ausufert. Einzelne Szenen des Textes erinnern in ihren stimmigen Schilderungen immer wieder selbst an Fotografien, und so lässt auch der Roman in gewisser Weise an ein sorgfältig über die Jahre zusammengetragenes Familienfotoalbum denken – mit all seinen Erinnerungen, Flecken und Leerstellen.

Diese Textpassage stammt aus der Kulturpreis-Broschüre von 2021