Kunstdiskurs als sublime Erinnerungsarbeit – zum Mahnmalprojekt «Viehofen» bei St. Pölten
«Ich bin gesund, mir geht es gut.» Mit dem handgeschriebenen (und damit persönlich und vertraulich wirkendem) Satz und ebensolcher Adressierung auf der Rückseite erhielten rund 20.000 St. Pöltner Bewohner(innen) seit 2009 über mehrere Jahre verteilt eine Postkarte, die auf der Vorderseite ein landschaftsähnliches Motiv aufweist (insgesamt wurden neun Ansichten für die gesamte Aussendung verwendet). Bis auf wenige Sujets war es für viele St. Pöltner(innen) rasch erkennbar, dass es sich um das Gebiet des Viehofener Sees handelte, einem großen Naherholungsgebiet der Stadt. Das Fehlen des Absendernamens und die Angabe «Mahnmal Viehofen» bewirkte allerdings rasch eine Irritierung und evozierte die Frage, was denn das bedeutet.
Basierend auf historischen Recherchen und einem künstlerischen Wettbewerb imAuftrag des Landes Niederösterreich (Kunst im öffentlichen Raum) sowie der Stadt St. Pölten entwickelte die 1971 in Bordeaux geborene und in Wien lebende Künstlerin Tatjana Lecomte ein subtiles, auf dem Prinzip postalischer Kommunikation beruhendes Projekt, um die nationalsozialistische Geschichte des Viehofener Gebiets mit dem erst in den 1980er-Jahren dort entstandenen Sees sichtbar zu machen. 1944/45 befand sich ebenda das größte Zwangsarbeiterlager Niederösterreichs. Ungarische und ukrainische Juden sowie Kriegsgefangene in Zusammenhang mit der Glanzstoff-Fabrik sowie anderen «rüstungsnotwendigen» Produktionen waren hier inhaftiert; viele von ihnen wurden vor Ort ermordet oder starben an Erschöpfung. Ergänzt wurden die Postkartensujets mit Aufnahmen des heutigen Zustands des Massengrabs, Gruppe IV des Hauptfriedhofs St. Pölten.
Anders als mit einer bloß faktisch-geschichtswissenschaftlichen Darstellung historischer Ereignisse gelang es Lecomte, mittels des Prinzips einer aktuellen, «persönlichen» Postkarten-Kommunikation einen unmittelbaren, komplexen Kontext und emotionalen Zugang zu Geschichtlichem zu ermöglichen (der eingangs erwähnte handgeschriebene Satz auf den Postkarten ist ein Zitat: alle Insassen von NS-Lagern mussten ihn auf ihre Postnachrichten schreiben).