Blicke über die Bande
Was ist das – eine Fotografie? Was sind die Parameter eines bildgebenden Mediums, das einerseits als Massenmedium von mittlerweile Milliarden Amateurinnen und Amateuren genutzt wird, andererseits in der Naturwissenschaft, im Journalismus und vor allem in der bildenden Kunst zum Einsatz kommt? Wie funktioniert dieses Werkzeug, das wohl eine der raffiniertesten „Verlängerungen“ der menschlichen Physis und ein Hilfsmittel zur Erforschung und Fassung der sogenannten Realität in der kulturgeschichtlichen Entwicklung darstellt?
Thomas Freiler widmet sich diesen Aspekten der Medienreflexion mit akribischer Genauigkeit. Er versucht, mittels „bildnerischen Denkens ohne Bilder“ eine künstlerische Dekonstruktion des narrativen Bildmediums zu vollziehen, indem er in vielen Fällen seine Bilder vom üblichen Auftrag der Reportage befreit und die Kategorien hervorarbeitet, die notwendig sind, um das Gesehene unter Berücksichtigung dieser Bedingungen „wahrscheinlicher“ zu interpretieren. Anders als ein fotografisches Lehrbuch, das technische – also mechanische, optische, physikalische und chemische – Grundlagen behandelt, liefert Freiler künstlerische Ergebnisse, die Reflexion und Wahrnehmung zugleich ermöglichen.
Das Bemühen, die Welt mittels möglichst detailgenauer, spiegelbildlicher oder naturalistischer Abbildung verständlich zu machen, prägt die gesamte Kunst- und Wissenschaftsgeschichte und beschäftigt die Philosophie seit jeher. Dabei greifen wir auf diverse Hilfskonstruktionen zurück, die bereits im menschlichen Körper beginnen: Selbst die unmittelbare Wahrnehmung eines Phänomens unterliegt komplexen neurologischen Verknüpfungen und subjektiven Befindlichkeiten, die zu unterschiedlichsten Auffassungen führen können. Wird diesem ohnehin vielschichtigen „natürlichen“ Apparat noch eine technische Konstruktion hinzugefügt, ist es kaum möglich, die Vielzahl der Faktoren dieser Anordnung vollständig zu entwirren.
Gerade aus diesem Grund sind künstlerische Arbeitsmethoden so wichtig: Sie nehmen sich dieses Problems auf unterschiedlichste Weise an – mehr denn je in einer Welt, die zunehmend auf Hilfswerkzeuge und Technologien angewiesen ist. Wir müssen uns bewusst sein, dass wir mit Modellen der Realität handeln, die sich dynamisch verändern und zu oft mit der Realität selbst verwechselt werden. Diese Abstraktionsprozesse sind zugleich ein menschliches Grundbedürfnis, mit deren Hilfe wir versuchen, – sozusagen über die Bande – der Wirklichkeit asymptotisch näherzukommen.
Es gibt kein Modell, das alternativlos ist; die vielfältige Herangehensweise ist notwendig, um das, was wir bescheiden „Welt“ nennen, als Lebens- und Denkraum zu erkunden. Mit Thomas Freiler hat die heurige Jury des Würdigungspreises für künstlerische Fotografie des Landes Niederösterreich eine Künstlerin bzw. einen Künstler ausgezeichnet, der eine der klarsten Positionen in puncto bildnerisches Denken über das Medium Fotografie in Niederösterreich und Österreich einnimmt.
Gewürdigt wird damit eine Arbeit, die seit Mitte der 1980er-Jahre in seltener Konsequenz die Bedingungen eines Mediums untersucht, das einerseits bereits als historisch bezeichnet werden kann, andererseits in unserer bildüberfluteten Gegenwart omnipräsent ist und ständige reflexive Begleitung verlangt. Die Entstehungsbedingungen fotografischer Bilder sowie die Funktionsweisen apparativer, analoger und digitaler Visualisierungstechniken – die neben dem Film einen der größten Einflussbereiche auf die Bildkultur der letzten fast 200 Jahre darstellen – systematisch, reflexiv und erhellend zu bearbeiten, ist Thomas Freilers zentrale Arbeitsmotivation und wird nun mit dem Preis anerkannt, den die Jury einstimmig mit Freude beschlossen hat.